„Insatiable“: Zurecht umstritten oder vielschichtiger als ihr Ruf? – Review
Netflix’ provokante Farce über Teenager und Miss-Wahlen
Rezension von Marcus Kirzynowski – 13.08.2018, 17:30 Uhr
Im Zeitalter des Internets und der sogenannten sozialen Medien nehmen Diskussionen über popkulturelle Werke gerne mal hysterische Dimensionen an. So im Fall der neuen Netflix-Comedyserie „Insatiable“, die schon vor der Veröffentlichung der ersten Staffel einen Shitstorm ausgelöst hat. Das Auftauchen des Trailers im Netz reichte aus, um mehr als 200.000 Unterzeichner für eine Online-Petition zu finden, die den Streamingdienst dazu bringen sollte, die Serie gar nicht erst zu veröffentlichen. Der Vorwurf: Sie leiste dem „Fat Shaming“ Vorschub, also den von der Gesellschaft eingeredeten Minderwertigkeitskomplexen überwiegend junger Frauen aufgrund ihres (vermeintlichen oder tatsächlichen) Übergewichts. Ohne Zweifel ein wichtiges Thema. Die Art und Weise, wie die PetitionsunterstützerInnen ihr Urteil formulierten, ohne auch nur eine Folge der Serie gesehen haben zu können, erinnert dann aber leider doch sehr deutlich an den alten Ruf nach Zensur einer Geschichte, die einem selbst nicht in den Kram passt.
Zum Glück ließ Netflix sich nicht einschüchtern und so kann sich jetzt jeder selbst eine Meinung bilden. Was ist nun dran an den Vorwürfen? Sicher ist „Insatiable“ eine Serie, die provozieren will. Der Tonfall ist von Anfang an schrill und politisch unkorrekt. Als Ich-Erzählerin fungiert die Teenagerin Patricia Bladell (Debby Ryan; „Jessie“), von allen nur Patty oder von ihren unliebsamen MitschülerInnen auch Fatty Patty genannt. Ihr ganzes bisheriges Leben wurde sie wegen ihres Übergewichts gemobbt, bis sie ihre Freizeit nur noch im Haus verbrachte – naschend mit ihrer einzigen Freundin Nonnie (Kimmy Shields). „Während meine Mitschülerinnen ihre Unschuld verloren, stopfte ich mir andere Löcher“, kommentiert Patty selbst lakonisch aus dem Off ihre Fressorgien. Ihr Leben ändert sich im Wortsinn schlagartig – als ihr bei einem Streit mit einem Obdachlosen, der sie beleidigt, der Kiefer gebrochen wird und sie sich drei Monate lang nur noch flüssig ernähren kann. Als sie nach den Sommerferien in die Schule zurückkehrt, ist sie äußerlich ein ganz neuer Mensch: 35 Kilo leichter und eine strahlende Teenie-Schönheit.
Der „Fat Shaming“-Vorwurf wäre berechtigt, wenn Patty nun tatsächlich ein glückliches Leben führen würde, sozialer Erfolg und Zufriedenheit lediglich vom Körpergewicht abhingen. In Wahrheit stellt Patty schon nach kurzer Zeit fest, dass sie sich zwar äußerlich gehäutet hat, innerlich aber immer noch das „fette“ Mädchen ist, das zu lange gemobbt wurde. Die jahrelangen Demütigungen und Zurücksetzungen haben in ihr Rachegelüste gegenüber ihren früheren Peinigern erzeugt – sie sind das eigentliche Unersättliche, auf das sich der Serientitel bezieht. So plant Patty bereits in der zweiten Folge, den Obdachlosen zu verführen und anschließend per Sexvideo bloßzustellen. Stattdessen stirbt er fast bei einem Brand in dem Hotel und Patty weiß nicht mehr, ob sie den vielleicht selbst gelegt hat, weil sie einen alkoholverursachten Filmriss hat.
Man merkt schon, subtil ist diese Comedy sicher nicht, sensibel zumindest am Anfang auch nicht gerade. Aber sind das neuerdings wirklich die Kriterien, die wir an Comedyserien anlegen? Sicher kann man es geschmacklos finden, Witze über Fettleibigkeit und Pädophilie zu machen. Der Vorwurf, sich dadurch mit Mobbern oder Kinderschändern gemein zu machen, ist jedoch absurd. Serienschöpferin Lauren Gussis verteidigte sich bei Twitter, die Idee zur Serie basiere auf ihren eigenen Erfahrungen mit Mobbing, Wut und Essstörungen. Geht es ihr in den ersten beiden Folgen noch erkennbar mehr um Überzeichnung und Pointen als um eine differenzierte Betrachtung sozialer Probleme, ändert sich der Tonfall später teilweise deutlich. Plötzlich gibt es doch einfühlsamere Momente, in denen die Ängste und Selbstzweifel der Figuren thematisiert werden. Spätestens, wenn sich in Episode 5 Patty und eine Transsexuelle gegenseitig ermutigen, erstmals öffentlich einen Bikini zu tragen, laufen die im Internet erhobenen Vorwürfe endgültig ins Leere. Dass das Bikinitragen Teil einer Hundewasch-Charity-Veranstaltung zur Unterstützung von Frauen mit Essstörungen ist, unterstreicht den Charakter der Serie als bitterböse Farce über die oberflächliche Welt, in der wir leben.
In mancherlei Hinsicht ist „Insatiable“ das Pendant zu AMCs thematisch ähnlicher Dramedy „Dietland“ (deutsch bei Prime Video). Während deren stark übergewichtige Heldin „Plum“ ihr Leben lang versucht, abzunehmen, bis ihr klar wird, dass es falsch ist, ihren Selbstwert von gesellschaftlich oktroyierten Schönheitsvorstellungen abhängig zu machen, merkt Patty erst nach ihrem Gewichtsverlust, dass „Idealmaße“ alleine auch nicht glücklich machen. Beide entwickeln nach ihrer jeweiligen Erkenntnis Rachegedanken an der patriarchal geprägten Gesellschaft. Während aber die Netflix-Comedy mit Hass überschüttet wird, wird die AMC-Serie, in der sogar eine weibliche Terrorgruppe reihenweise Männer umbringt, als feministisches Statement gefeiert. So ungerecht kann die öffentliche Meinung im Internet-Zeitalter sein. Allen, die schwarzhumorige und überdrehte Comedys mögen, sei geraten, sich einfach vorurteilsfrei ein eigenes Bild zu machen. Ein genauerer Blick, auch über die wenig repräsentative Auftaktfolge hinaus, lohnt sich.
Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten fünf Episoden der Serie „Insatiable“.
Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: Netflix
Die komplette erste Staffel der Serie „Insatiable“ ist beim Streaming-Dienst Netflix verfügbar.
Über den Autor
Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.
Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing
Kommentare zu dieser Newsmeldung
Vritra am
Dieses ganze Affentheater, das im Vorfeld um die Serie gemacht wurde, hat bei mir nur einen Effekt erzeugt: Sie kam auf die Sehliste, obwohl mich solche Themen nicht interessieren!Helmprobst am via tvforen.de
TV Wunschliste schrieb:
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> Das Auftauchen des
> Trailers im Netz reichte aus, um mehr als 200.000
> Unterzeichner für eine Online-Petition zu finden,
> die den Streamingdienst dazu bringen sollte, die
> Serie gar nicht erst zu veröffentlichen. Der
> Vorwurf: Sie leiste dem "Fat Shaming" Vorschub,
> also den von der Gesellschaft eingeredeten
> Minderwertigkeitskomplexen überwiegend junger
> Frauen aufgrund ihres (vermeintlichen oder
> tatsächlichen) Übergewichts.
Ach ja, alle Jahre wieder finden sich ein paar Verrückte, die meinen, das Anschauen einer Fernsehserie sei gefährlich und bringe das Publikum zu unüberlegten Kurzschlusshandlungen.
Da hab ich mich schon aufgeregt wie unlängst die Diskussion im Raum stand, ob es nicht ein gigantisches Risiko gäbe, dass sich nach dem Konsum von "Tote Mädchen lügen nicht" reihenweise Netflix-User das Leben nehmen könnten. Ist aber nicht passiert. Und elf Staffeln "Eine schrecklich nette Familie" haben sicher auch nicht nennenswert zum moralischen Verfall der Gesellschaft beigetragen.
Genausowenig wie sich Teenies nach dem Schauen von "South Park" oder früher "Tom und Jerry" oder "Schweinchen Dick" ja auch nicht gegenseitig gejagt und zerlegt haben.
Ich warte drauf, dass mal wieder jemand die steile These bringt, das Spielen von manchen Computerspielen würde zu Amokläufen führen und sie gehören deswegen verboten.
Das Sommerloch lässt grüssen...
Mein Tipp an alle, die derartige Petitionen unterstützen: mal eine Folge anschauen, dann ein eigenes Vorteil bilden, und wenn es einem nicht gefällt - einfach was anderes schauen und dem Rest der Welt sein Vergnügen an einer Serie lassen!Sveta am via tvforen.de
Wir wissen doch inzwischen das die Generation Snowflake über das kleinste Steinchen stolpert.
Es gibt immer jemanden der sich angegriffen, bedroht und diskrimiert fühlt und dann öffentlich weinen muß. Ich glaube manche suchen ständig nach irgendwelchen Sachen die sie anprangern können. Guckst du: https://twitter.com/ZDFsport/status/1028730012353134592andreas_n am via tvforen.de
Helmprobst schrieb:
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> dann ein > eigenes Vorteil bilden
Bitte was?andreas_n am via tvforen.de
Sveta schrieb:
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> Wir wissen doch inzwischen das die Generation
> Snowflake
Ich habe noch nie etwas von der "Generation Snowflake" gehört.
Ich werde wohl alt. :DSveta am via tvforen.de
andreas_n schrieb:
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> Sveta schrieb:
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> > Wir wissen doch inzwischen das die Generation
> > Snowflake
>
> Ich habe noch nie etwas von der "Generation
> Snowflake" gehört.
> Ich werde wohl alt. :D
[Der Begriff] "schmäht angeblich überempfindliche, weinerliche, meist junge Menschen, die Kritik nicht ertragen und meinen, das Recht zu haben, Andersdenkenden den Mund zu verbieten: „Snowflakes“ sind gewissermaßen gefrorene politische Korrektheit." https://www.welt.de/vermischtes/article159946299/Die-verhaetschelten-Schneeflocken-und-ihre-Feinde.htmlHelmprobst am via tvforen.de
andreas_n schrieb:
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> Helmprobst schrieb:
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> > dann ein > eigenes Vorteil bilden
>
> Bitte was?
Habe statt "Urteil" aus Versehen erst "Vorurteil" getippt und beim Korrektorversuch kam dieser Blödsinn raus. Hoffe, man konnte das Gemeinte aus dem Zusammenhang erahnen.
Thinkerbelle (geb. 1964) am
Ich habe die Serie zwar nicht gesehen, aber von der Beschreibung her ist sie eher das Gegenteil von Fat-Shaming. Sie glorifiziert es aber nicht, sondern zeigt, wie es jemanden kaputt macht.