„Paper Girls“: Amazons Comicadaption ist viel mehr als nur ein „Stranger Things“-Klon – Review

Mix aus SF und sensiblem Drama mit starkem jugendlichen Ensemble

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 29.07.2022, 07:00 Uhr

Die „Paper Girls“ begeben sich auf Zeitreise – Bild: Amazon Studios
Die „Paper Girls“ begeben sich auf Zeitreise

Es ist 1988, der Morgen nach Halloween, auch Höllenmorgen genannt. In Stony Stream, einem (fiktiven) Vorort von Cleveland, Ohio, macht sich die 12-jährige Erin (Riley Lai Nelet) auf ihre erste Tour als Zeitungszustellerin. Ausgerechnet in der gefährlichsten Nacht des Jahres, da noch viele hemmungslose Jugendliche in Horrorkostümen unterwegs sind, die Ärger suchen. Als Erin auch prompt von einigen verkleideten halbstarken Jungs belästigt wird, stehen ihr drei Kolleginnen zur Seite: mit großem Mundwerk, aber auch mit einem Eishockeyschläger. Schnell wird klar: Paper Girls lassen sich nichts gefallen und sind untereinander solidarisch. Beide Stärken werden die vier Mädchen noch oft gebrauchen, denn am selben Morgen geraten sie in ein unglaubliches Abenteuer, bei dem es um nicht weniger geht als die Rettung des Universums.

Die Amazon-Produktion „Paper Girls“ ist eine Adaption der gleichnamigen Comicserie von Autor Brian K. Vaughan und Zeichner Cliff Chiang, die auf Deutsch bei Cross Cult erscheint. Vaughan wurde bereits vor Start der Reihe mit seinem Science-Fiction-Epos „Saga“ zu einem der angesagtesten US-Comicautoren abseits der Superheldenverlage Marvel und DC. Und auch „Paper Girls“ gewann 2016 gleich zwei der renommierten Will Eisner Awards, dem wichtigsten Branchenpreis in den USA. Kein Wunder, dass der Stoff für eine Verfilmung ausgewählt wurde, zumal die Mischung aus Sci Fi und Coming-of-Age-Drama perfekt in den Zeitgeist passt – gerade nach dem Riesenhype um „Stranger Things“.

Tatsächlich wirkt Amazons Comicadaption zunächst fast wie ein Klon des Retro-Serienhits von Konkurrent Netflix – spielt doch auch die neue Serie (zu Beginn) in den 1980er Jahren und hat Pre-Teens als Hauptfiguren, quasi als Gegenentwurf zu den Jungs in „Stranger Things“ allerdings vier Mädchen, die auch noch auf Bonanzarädern durch eine Kleinstadt fahren. Schon ab der zweiten Folge entwickelt sich die Serie um die jungen Zeitungsausträgerinnen aber in eine eigenständige Richtung.

Diesmal gibt’s Mädchen auf Bonanzarädern Amazon Studios

Denn nachdem sich der Himmel bedrohlich lila-pink verfärbt hat und ihnen höchst seltsame Männer begegnen (anders als im Comic keine Aliens), finden sich Erin, Mac, Tiffany und K.J. mittels einer Zeitmaschine plötzlich 31 Jahre in der Zukunft wieder. In den insgesamt acht Episoden der ersten Staffel geht es noch ein paar Mal in der Zeit hin und her. Das Wie und Warum des Zeitreisens bleibt dabei reichlich diffus, es wird lediglich klar, dass die Mädchen in einen die Jahrtausende überspannenden Krieg geraten sind. In dem kämpfen zwei Parteien, von denen man nur soviel wissen muss: Es gibt die „Bösen“, die wollen, dass alles bleibt, wie es ist, da sie dann die Macht behalten (wie genau sie diese ausüben, wird wiederum nicht klar, scheint doch die Demokratie in den USA im Jahr 2019 unverändert), und die „Guten“, eine Untergrundbewegung, die will, dass alles wieder so wird, wie es vor einer Abweichung der Normalzeit war.

Dieser Zeitkrieg ist mit einigem Techno-Bubble verbunden, den man aber getrost ignorieren kann. Er liefert zwar genügend Anlässe für die eiskalt wirkende Prioress (Adina Porter, „The 100“), Angehörige und Kontaktpersonen der Heldinnen zu exekutieren wie Arnie im ersten „Terminator“. Eigentlich hat die ganze Zeitreisethematik aber eine andere Hauptfunktion: Durch die Begegnungen mit erwachsenen Versionen ihrer Selbst geraten die Mädchen ins Nachdenken darüber, wer sie eigentlich sein wollen. Auch wenn die taffe, rebellische Mac (Sofia Rosinsky), die aus sozial schwierigen Verhältnissen kommt, ihren nunmehr erwachsenen Bruder trifft, der es zum Notaufnahmearzt geschafft hat, eröffnet ihr das ganz neue Perspektiven auf ihre Familie.

Müssen sich erst zusammenraufen: Erin (Riley Lai Nelet), K.J. (Fina Strazza), Tiffany (Camryn Jones) und Mac (Sofia Rosinsky) Amazon Studios

Weniger begeistert ist hingegen Erin, als sie ihrem 43-jährigen Alter Ego begegnet, lebt die erwachsene Erin (Ali Wong) doch immer noch im Haus der inzwischen verstorbenen Mutter, hat weder eine eigene Familie noch einen akademischen Abschluss und nimmt zudem noch Antidepressiva. Und auch Tiffany (Camryn Jones) ist nach erstem Enthusiasmus eher enttäuscht, als sie erfährt, dass die zunächst sehr cool wirkende ältere Tiff (noch?) nicht die brillante Karriere gemacht hat, die sich die 12-Jährige erträumt hatte. Und K.J. (Fina Strazza) reagiert schockiert, als sie von der Kommilitonin ihres älteren Selbst nicht nur erfährt, dass sie zur Filmhochschule gehen wird, sondern auch mitbekommt, dass die Beiden ein Paar sind.

Obwohl es auch reichlich Actionszenen gibt – inklusive riesiger Kampfroboter à la „Pacific Rim“ und Flugsauriern -, ist „Paper Girls“ im Kern also eine Dramaserie, die klassische Fragen des Coming-of-Age-Genres behandelt: Wer bin ich und wer könnte ich sein? Hab ich es selbst in der Hand oder ist mein Lebensweg schon weitgehend vorbestimmt? Ergänzt um die Frage aller Zeitreisegeschichten: Wie verändere ich mich, wenn ich schon einen Blick auf mein älteres Ich erhaschen kann?

Die 12-jährige Erin trifft ihr 43-jähriges Ich (Ali Wong) Amazon Studios

Dass die Auseinandersetzung mit diesen Fragen nie platt ausfällt, liegt an zwei großen Pluspunkten der Serie: den ebenso cleveren wie pointierten Dialogen und den großartigen Hauptdarstellerinnnen. Zwar sind letzere auch hier mal wieder – wie in US-Produktionen üblich – deutlich älter als ihre Figuren, dafür sind sie exzellent besetzt. Mit der smarten, selbstbewussten Afro-Amerikanerin Tiffany, der unsichereren Chinesin Erin, der stillen Jüdin K.J. und der großmäuligen Weißen Mac, von denen dann noch zwei aus wohlhabenden und zwei aus der Unter- bis Mittelschicht stammen, ist das Ensemble der Heldinnen zudem erfrischend divers und bietet Stoff für viele interessante Diskussionen.

Und tatsächlich werden Themen wie Klassenunterschiede und Antisemitismus schon in den ersten Folgen ganz selbstverständlich in die Handlung eingebaut. Noch ungewöhnlicher für eine US-Mainstreamserie ist es, wenn die Mädchen einmal minutenlang über die erste Periode und ihre Unsicherheit bei der richtigen Anwendung von Tampons reden, was sensibel und völlig unpeinlich rüberkommt.

Ungleiche Freundinnen: Mac und Erin Amazon Studios

Das unterstreicht eindrucksvoll, dass die AutorInnen (Stephany Folsom adaptierte die Comicvorlage) ihre jugendlichen Figuren und deren Probleme ebenso ernst nehmen wie ihre vermutliche Hauptzielgruppe. Showrunner Christopher C. Rogers und sein Partner als Autor und Produzent Christopher Cantwell haben schon mit der sträflich unterschätzten AMC-Serie „Halt and Catch Fire“ bewiesen, dass sie das 1980er-Jahre-Thema perfekt beherrschen, das auch hier eine nicht ganz unwichtige Rolle spielt (schon alleine durch die Musikauswahl von den Bangles bis zu den Beach Boys). „Paper Girls“ erweist sich aber als viel mehr als nur eine weitere Retro-SF-Serie – nämlich als starkes und differenziertes Charakterdrama mit einigen der interessantesten weiblichen Figuren der jüngeren Zeit.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten ersten Staffel von „Paper Girls“.

Meine Wertung: 4/​5

Die achtteilige erste Staffel steht ab Freitag, den 29. Juli bei Prime Video zur Verfügung.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

    weitere Meldungen