„Zwei Seiten des Abgrunds“: Thriller-Miniserie zeigt die Vorhölle in Wuppertal und in uns selbst – Review

Düstere Koproduktion von RTL+ und Warner TV Serie ist spannend, aber überkonstruiert

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 07.05.2023, 17:30 Uhr

„Zwei Seiten des Abgrunds“ – Bild: RTL/Warner Bros. Discovery/Benno Kraehahn
„Zwei Seiten des Abgrunds“

Streifenpolizistin Luise Berg (Anne Ratte-Polle, „Dark“) kann es nicht fassen: Bei einem Einsatz erkennt sie plötzlich den Mörder ihrer Tochter wieder. Dennis Opitz (Anton Dreger) wurde wegen guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen, mit einer strahlenden Wiedereingliederungsprognose. Aber die verbitterte Frau traut dem angeblich geläuterten jungen Mann nicht über den Weg und nimmt auf eigene Faust Ermittlungen auf, während ihr Umfeld sie zunehmend für besessen hält.

„Zwei Seiten des Abgrunds“ heißt die sechsteilige Thriller-Miniserie, zu der sich erstmals ein deutscher Streamingdienst und ein Pay-TV-Sender zusammengetan haben: RTL+ und Warner TV Serie, wo die Produktion gleichzeitig startet. Zudem ist sie international beim Warner-eigenen Streamingportal HBO Max zu sehen. Die Erwartungen dürften also durchaus hoch sein, zumal insbesondere Warner TV Serie unter anderem mit „Weinberg“ und „4 Blocks“ zu den Pionieren auf dem Gebiet anspruchsvoller deutscher Serienproduktionen gehört.

Erzählt wird auf zwei Zeitebenen: Während die Haupthandlung in der Gegenwart angesiedelt ist, führen uns Rückblenden immer wieder sieben Jahre in die Vergangenheit. In der relativ kurzen Zeit dazwischen ist Luises Leben völlig vor die Hunde gegangen. Vor sieben Jahren führte sie noch eine glückliche Ehe mit ihrem Polizistenehemann Manuel (Renato Schuch) und ein normales Familienleben mit zwei Töchtern: der 17-jährigen Merle (Josephine Thiesen) und deren jüngerer Schwester Josi. In der Gegenwart ist Luise an dem grausamen Tod ihrer Ältesten zerbrochen, lebt alleine in der Wohnung und scheint auch bei ihren täglichen Einsätzen in den Straßen Wuppertals abgestumpft. Während ihr Ex-Gatte sich ein neues Leben mit neuer Partnerin, Zwillingen und Tochter Josi aufgebaut hat, sitzt Luise abends im leeren Zimmer ihrer toten Tochter auf dem Boden oder hat schnellen, brutalen Sex mit wechselnden Männern in einem Stundenhotel.

Schockierende Zufallsbegegnung im Baumarkt: Dennis (Anton Dreger, M.) und Polizistin Luise (Anne Ratte-Polle) RTL/​Warner TV Serie

In den Rückblenden sehen wir, wie sich Merle einen Praktikumsplatz in einem Jugendheim sucht und dort den verhaltensgestörten Dennis betreut. Der ist stark übergewichtig, ungepflegt und sozial unzulänglich. Später werden wir erfahren, dass er bereits als kleiner Junge Opfer sexuellen Missbrauchs wurde, was sich dann während seiner „Heimkarriere“ fortsetzte. Die attraktive aufgeweckte Teenagerin nimmt sich des Außenseiters zunächst aufmerksam an und gibt ihm Nachhilfe. Als Luise sie dazu bringt, ihn auch nach Ende des Praktikums weiter zu unterrichten, kippt ihr Verhalten jedoch: Sie beginnt, ihn zu mobben. Bis das ständige Opfer zum Täter wird.

Sieben Jahre später ist aus dem eingeschüchterten hässlichen Heranwachsenden ein selbstbewusster gut aussehender Mann geworden, der seine traumatische Kindheit ebenso wie seine schreckliche Tat scheinbar aufgearbeitet und damit abgeschlossen hat. Nur Luise glaubt nicht daran und stößt bald tatsächlich auf einen Mord auf einem belgischen Campingplatz, auf dem Dennis einen Teil seiner Kindheit verbracht hat. Etwas später baumelt auch noch ein Schwebebahnfahrer an der Decke seiner Wohnung, der ebenfalls eine gemeinsame Vergangenheit mit Dennis hat. Aber niemand will der störrischen, eigensinnigen Polizistin glauben. Unterdessen beobachtet der Verdächtige die inzwischen zur jungen Frau gewordene Josi (Lea van Acken, „Sløborn“) und spricht sie schließlich während einer drogengeschwängerten Tanzveranstaltung im Szeneclub an …

In glücklicheren Zeiten: Tochter Merle (Josephine Thiesen) und Mutter Luise RTL/​Warner TV Serie

Ganz schön edgy also, diese Geschichte über Traumata, die sich immer weiter fortsetzen und Jahre später neue Opfer fordern, über Schuld und Rache und die (Un-)Möglichkeit von Läuterung und Vergebung, die Kristin Derfler hier entworfen hat. Entsprechend düster setzen Regisseur Anno Saul („Charité“) und Kameramann Martin L. Ludwig sie in Bilder um. Wuppertal ist ja für sein oft schlechtes Wetter berüchtigt, hier erscheint die Bergische Metropole allerdings wie eine Vorhölle, in der es nie richtig hell wird und dunkle Schatten über allem liegen. Reichlich inflationär wird das Motiv der Schwebebahn eingesetzt, die in fast jedem Establishing Shot oder Zwischenschnitt auf die Stadt zu sehen ist. Auch die Figuren sind ständig mit ihr unterwegs, obwohl es ja in Wirklichkeit nur eine Linie gibt. Zu konstruiert wirkt es auch, wenn der Schwebebahnfahrer seine Wohnung direkt neben der Endstation hat. Abgesehen von dem berühmten Verkehrsmittel fällt den Machern wenig zur Stadt ein, so dass der Schauplatz letztlich beliebig bleibt.

Die unglaubwürdigen Elemente setzen sich bei der Figurenzeichnung fort. Dass aus dem ungelenken, offensichtlich gestörten Mann im Bodysuit ausgerechnet im Gefängnis innerhalb weniger Jahre so ein attraktiver eloquenter Bursche geworden sein soll, wirkt ebenso bemüht wie das völlig entgleiste Sexualleben von Luise. Auch dass die offensichtlich schwer traumatisierte Mutter immer noch ihren Dienst als Streifenpolizistin ausübt, ist nicht gerade realistisch. Dass sich der Teeniemörder ausgerechnet an die Schwester seines Opfers ranmacht, liegt wohl in der Genrelogik begründet. Warum Josie aber keinen Verdacht schöpft, obwohl sie Dennis ja damals schon kannte, ist trotz starker Gewichtsabnahme nicht nachvollziehbar.

Die Schöne und das Biest: Merle und der hier noch abstoßend wirkende Dennis RTL/​Warner TV Serie

Insgesamt hat Derfler hier zu oft zu dick aufgetragen. Die Grundidee ist durchaus interessant und die weitere Entwicklung in Ansätzen spannend, aber die vielen offensichtlichen Konstruktionsmängel machen einem das Ganze schon ein bisschen madig. Immerhin gibt es gegen Ende die eine oder andere überraschende Wendung, die die anfangs klaren Gegensätze zwischen „guten“ und „bösen“ Figuren etwas ambivalenter erscheinen lassen. Erfrischend ist es, in den Hauptrollen einmal nicht die üblichen Verdächtigen der deutschen Serienlandschaft zu sehen, sondern unverbrauchte Gesichter wie Dreger und van Acken. Auch Ratte-Polle ist eine ungewöhnliche und gerade dadurch überzeugende Wahl für eine Serienhauptrolle.

Schauspielerisch und handwerklich-technisch braucht sich die Miniserie nicht vor der internationalen Konkurrenz zu verstecken. Aber wie bei so vielen deutschen Serien fällt sie erzählerisch leider deutlich gegenüber vergleichbaren Produktionen anderer europäischer Länder zurück. Zum Vergleich kann man sich eine (beinahe) beliebige skandinavische Serie bei Netflix oder in der arte-Mediathek ansehen.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten Miniserie.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die Miniserie startet am 8. Mai zeitgleich bei RTL+ und Warner TV Serie. Bei RTL+ sind ab dem 8. Mai alle sechs Folgen abrufbar. Warner TV Serie zeigt die Serie ab diesem Tag immer montags um 20:15 Uhr in Doppelfolgen.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Sind dort wieder keine Untertitel für Gehörlose zuschaltbar?
    RTL+ wiedermal nicht wie ich hörte. Muß man jetzt wieder ein PayTV-Paket abonieren um die Serie zu schauen?
    • am

      OMG Was vom Trash TV Sender kommt kann ja nur Schrott sein. Allein der Mist mit den zwei Zeitebenen. Es spricht nicht gerade für Warner, dass sie mit Trash TV Sendern arbeiten.
      • (geb. 1968) am

        Warum sollen zwei Zeitebenen pauschal Mist sein? Ist doch ein bewährtes Stilmittel, das auch in hochklassigen Serien eingesetzt wurde, wie z. B. Lost.

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