„Dear White People“: Witzig, gefühlvoll und sexy auch jenseits des politischen Gehalts – Review
Netflix-Serie funktioniert als Gesellschaftskritik und College-Comedy
Rezension von Marcus Kirzynowski – 10.05.2017, 14:34 Uhr
Man kann vom stetig wachsenden Aufgebot der Netflix-Originalproduktionen halten, was man will. Für einen Aspekt kann man dem Video-on-Demand-Dienst aber im Grunde gar nicht genug dankbar sein: Er schert sich bei seinen Auftragsarbeiten kaum um den Mainstream, versucht stattdessen, für alle möglichen Zielgruppen etwas eigenes anzubieten, statt es möglichst vielen Kunden mit jeder Serie recht machen zu wollen. Dabei kommen immer wieder bemerkenswerte Produktionen wie „The Get Down“ oder jetzt „Dear White People“ heraus, die im linearen US-Fernsehen trotz der Erfolge von „Empire“ und „Black-ish“ noch immer unvorstellbar wären.
Die zehnteilige Serie über eine Gruppe afro-amerikanischer Studierender an einer fiktiven Eliteuni ist eine bissige gesellschaftspolitische Satire über die in den USA noch immer hoch kontroverse race-Frage, verpackt in ein halbstündiges Comedyformat inklusive soapiger „Wer mit wem?“-Handlungstränge. Ganz schön clever. Wie kontrovers alles, was mit race zu tun hat, auch nach zwei Amtszeiten des ersten schwarzen Präsidenten in Amerika immer noch ist, zeigen auch die Reaktionen auf die Serie: Nach der Veröffentlichung des Trailers gab es erst einmal Netflix-Boykottaufrufe von politisch zweifelhaften Twitter-Usern. Der Vorwurf: Die Serie sei selbst rassistisch, und zwar gegenüber Weißen. Justin Simien, der Mann hinter „Dear White People“, sah dadurch die Aussage, die er mit seiner Serie treffen wollte, bestätigt.
Die Entstehungsgeschichte von Simiens Werk liest sich selbst wie das Drehbuch zu einem Hollywood-Film: Die Idee hatte er bereits während seiner Studienzeit, in der er ähnliche Erfahrungen machte wie seine Protagonisten. Während Simien danach als PR-Mitarbeiter sein Geld verdiente, startete er 2010 den Twitter-Account @DearWhitePeople – als Reaktion auf einen Bericht über eine College-Themenparty, bei der weiße Studenten als Schwarze verkleidet feierten, ganz im Stil der Minstrel-Shows vergangener Jahrhunderte, mit denen sich schon Spike Lee in seinem Film „Bamboozled“ (2000) satirisch auseinandersetzte. Über eine erfolgreiche Crowdfundingkampagne gelang es Simien schließlich, eine Produktionsfirma für sein Filmprojekt zu gewinnen. 2014 lief die Kinoversion von „Dear White People“ auf dem Sundance Festival, gedreht in 19 Tagen und mit einem für US-Verhältnisse lächerlichen Budget von rund einer Million Dollar. Dann wurde Netflix auf den Indiefilm aufmerksam und der Rest ist Geschichte.
Thema der Serie (wie des Films) sind die ständigen Auseinandersetzungen, Kontroversen und Missverständnisse zwischen den relativ wenigen schwarzen und der Mehrheit der weißen Studierenden an der Eliteuniversität Winchester. Eskalationsauslösendes Ereignis ist dabei eine „Blackface“-Party, zu der eine weiße Studentenorganisation aufruft, aus Protest gegen die College-Radioshow „Dear White People“. In der adressiert die politisch offensiv auftretende Samantha „Sam“ White (Logan Browning) regelmäßig ihre weißen Kommilitonen, um sie auf deren rassistische Handlungsweisen aufmerksam zu machen. Die Geschehnisse vor, während und unmittelbar nach der provozierenden Party, auf der die Weißen sich als schwarze Stereotypen wie „die Bitch“, „der Ghettoboy“ oder „der Radikale“ maskiert haben, beleuchten die ersten Episoden aus den verschiedensten Blickwinkeln. In jeder Folge steht dabei eine der Hauptfiguren im Mittelpunkt. Es braucht eine Weile, bis man diese komplizierte Erzählstruktur verstanden hat und merkt, dass die Serie ihre Geschichte nicht chronologisch erzählt.
Über den politischen Gehalt hinaus ist „Dear White People“ aber oft auch einfach witzig, gefühlvoll und teilweise ganz schön sexy – eben so, wie es bei einer Collegeserie sein sollte. Wie bei allen anderen in dieser Lebensphase auch, dreht sich bei den Figuren vieles um Beziehungen, um Selbstfindung, um die Frage, wie man der Erwachsene werden kann, der man sein möchte. Dabei wirken die Protagonisten (auch dank der hervorragenden Jungschauspieler) nie wie bloße Stereotypen, sondern entpuppen sich mit der Zeit als ebenso komplexe wie ambivalente Charaktere, von denen am Ende gleich mehrere handeln, wie man es ihnen zu Beginn nicht zugetraut hätte. Unter den zahlreichen neuen Netflix-Serien kann diese schon jetzt als eine der großen Überraschungen des Jahres gelten.
Dieser Text basiert auf Sichtung der gesamten ersten Staffel der Serie.
Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: Adam Rose/Netflix
Über den Autor
Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.
Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing