Marcella – Review
Britischer Thriller kann Vorgängerformate nicht übertrumpfen – von Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 05.09.2016, 14:04 Uhr
Wie inzwischen jede zweite Thrillerserie beginnt die ITV-Produktion „Marcella“ mit einem Blick in die (nähere) Zukunft der Hauptfigur: Marcella Backland (Anna Friel) sitzt in der Badewanne, die Beine eng an den Oberkörper gezogen, weinend, verstört, verzweifelt. Ihr Gesicht ist an den Schläfen blutverschmiert. Danach der Zeitsprung zurück: Erzählt wird jetzt, was ihr in den zwölf Tage vorher passiert ist – allerdings nicht komplett, denn die etwa 40-jährige Frau leidet nach Stresssituationen unter Gedächtnisaussetzern. Und so wie sie sich an bestimmte Momente der jüngeren Vergangenheit einfach nicht mehr erinnern kann, so bekommen auch wir als Zuschauer nicht das gesamte Geschehen zu sehen.
So viel wird schnell klar: Die ehemalige Kriminalbeamtin steckt in einer tiefen Krise, nachdem ihr Ehemann Jason (Nicholas Pinnock, der undurchsichtige Familienvater aus „Fortitude“) sie gerade ziemlich aus heiterem Himmel verlassen hat. Kurz darauf bekommt sie Besuch von einem Mordermittler, der sie zu einem alten Fall befragen will, an dem sie vor elf Jahren gearbeitet hat: Die Polizei glaubt, der damals nicht überführte Serienkiller hätte nun wieder zugeschlagen. Um sich von ihrem Liebeskummer abzulenken, bittet Marcella darum, wieder in den aktiven Polizeidienst eintreten zu dürfen – was in Großbritannien anscheinend von jetzt auf gleich möglich ist. Jedenfalls hat Marcella sofort ihren alten Rang als Detective Sergeant zurück und ergänzt das Ermittlerteam im Fall des sogenannten „Grove Park“-Serienmörders. Dabei nimmt sie sofort einen Mann wieder ins Visier, den sie schon vor elf Jahren verdächtigt hat, stößt damit bei ihren Kollegen aber auf wenig Verständnis.
Die achtteilige erste Staffel der britischen Krimiserie fängt vielversprechend an, mit einer angeschlagenen Hauptfigur, die sich höchst irrational verhält, stilvoll gefilmt und effektiv in Szene gesetzt. So fährt Marcella, einige Stunden nachdem ihr Ehemann ihr seine schockierende Entscheidung mitgeteilt hat, mit dem Taxi vor dessen Büro und zertrümmert erst einmal die Windschutzscheibe seines parkenden Autos. Dabei ist die Londoner Nacht so regennass, wie man es gewohnt ist, die bunten Lichter der Stadt spiegeln sich in den Autofenstern. Wenig später sehen wir, dass sich Marcellas Gewaltausbrüche nicht auf leblose Gegenstände beschränken. Als Jason noch einmal in das ehemals gemeinsame Haus zurückkommt, prügelt seine Noch-Gattin auf ihn ein, drängt ihn dabei in Richtung der herunterführenden Treppe. Danach hat sie einen ihrer Aussetzer, findet sich alleine im Haus wieder, ohne sich zu erinnern, wie Jason es verlassen hat. Zwar erfreut sich der bester Gesundheit, wie er ihr am Telefon versichert, trotzdem wird klar, dass die Erzählperspektive von Marcella eine höchst unzuverlässige ist.
Ein weiterer Nebenstrang erzählt von einer jungen Frau, die ihr Geld mit einer Erotik-Live-Cam-Webseite verdient – und damit, Männer, die mehr von ihr wollen, als ihr nur via Internet beim Ausziehen zuzusehen, auszutricksen und zu berauben. Dabei scheint sie aber bald an den Falschen geraten zu sein, an einen anonymen Chatpartner, der sie bedroht, nachdem er sie zunächst noch rollenspielerisch aufgefordert hat, sich vor der Webcam mit einem scharfen Küchenmesser über die entblößten Brüste zu fahren.
So weit also alles wie gehabt in der Rosenfeldt’schen Schreibwerkstatt: ein sich über eine komplette Staffel erstreckender Mehrfachmordfall, psycho-sexuelle Motive und eine selbst psychisch stark herausgeforderte Ermittlerin. Und obwohl man Anna Friel („Pushing Daisies“, „Odyssey“) eigentlich immer gerne zusieht, die hier eine weitere Variation ihrer sympathisch-mitleiderregenden, vom Schicksal gebeutelten Frauenrollen abliefert, wirkt das diesmal doch alles sehr ausgelutscht. Weitgehend hat Rosenfeldt einfach die Checkliste für düstere horizontal erzählte Krimiserien abgearbeitet, die er durch „Die Brücke“ selbst maßgeblich mit geprägt hat. Aber mittlerweile hat man diese Noir-Optik und die kaputten Kommissarinnen vielleicht einfach zu oft gesehen (zuletzt etwa im schwedischen „Jordskott – Die Rache des Waldes“) und leider ist Marcella Backland dann doch nicht so faszinierend wie Saga Norén. Zudem wirken die psychischen Probleme der Hauptfigur aufgesetzt (natürlich wird sie schon am Ende der zweiten Folge auch noch selbst zur Verdächtigen), so als wolle Rosenfeldt von der ansonsten doch reichlich konventionellen Krimihandlung ablenken, die nie einen vergleichbaren Sog erzeugt wie bessere europäische Produktionen des gleichen Genres, etwa das beklemmende britische „The Fall“ oder die „Mutter des Scandinavian Noir“ „Kommissarin Lund“.
Wer diese Art von Thrillerserie mit starker, aber ambivalenter weiblicher Hauptfigur mag, kann durchaus einen Blick riskieren, sollte aber nicht allzu viel Neues erwarten. Wer davon schon übersättigt ist, wartet besser auf die nächste Staffel „Die Brücke“, wo die Formel des Serienschöpfers wesentlich besser aufgeht – gerade nach der Einführung von Sagas neuem, psychisch ebenfalls angeschlagenen Partner in der dritten Staffel. „Marcella“ ist im direkten Vergleich dann leider doch nur ein Abklatsch.
Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten beiden Episoden der Serie.
Meine Wertung: 3/5
Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: Netflix
Über den Autor
Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.
Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing
Kommentare zu dieser Newsmeldung
User 1353942 am
Bei allen dramaturgischen und kriminalistischen Schwächen der Serie, ist die Hauptdarstellerin
Anna Friel hervorragend. Sie bewältigt "spielend" die großen Anforderungen der Rolle und läßt keine Wünsche offen.
Dirk Jungnickel