2021/2022, Folge 175–184

  • 30 Min.
    Denis Scheck startet in einen Herbst der literarischen Frauen-Power. Mit der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse spricht er über die verdrängten Sünden der Geschichte und mit Daniela Krien diskutiert er Paarprobleme. „Dunkelblum“ von Eva Menasse (Kiepenheuer & Witsch): Sie alle teilen dunkle Geheimnisse, über die niemand spricht. Der Lebensmittelhändler, der Bürgermeister, die Gasthaus-Wirtin. Dumm nur, dass ein paar Studenten auf dem zugewucherten jüdischen Friedhof, die vergessene Geschichte des Dorfes freilegen.
    Dunkelblum heißt der fiktive Ort, an dem Eva Menasse ihren neuen Roman angesiedelt hat. Ein Ort irgendwo im Niemandsland – noch gerade in Österreich, aber in Reichweite der ungarischen Grenze. Im Jahr 1989 kommen hier die ersten DDR-Flüchtlinge durch den Wald, und eine Gruppe junger Leute versucht, das Schicksal der jüdischen Bevölkerung während der Nazi-Zeit aufzuklären. Ereignisse, die das verkrustete Gefüge des Dorfes in Bewegung setzen. Plötzlich können die Dunkelblumer wieder in die Geschichte eingreifen.
    So wie 1945, als die Panzer der Sowjets anrückten. Eine Scheune brennt, auf der Dorfwiese finden sie einen Toten und die Alten geraten in Unruhe, weil die Gräuel der Vergangenheit langsam wieder hervorbrechen. Eva Menasse wählt für ihren fesselnden, bisweilen auch bitter-komischen Roman die verschiedenen Perspektiven der Dorfbewohner – und eine mit Austriazismen gespickte Sprache. Bei Verständigungsproblemen hilft eine Übersetzungstabelle im Anhang. „Der Brand“ von Daniela Krien (Diogenes): Ein gemeinsamer Urlaub in den Bergen soll die Ehe von Rahel und Peter retten.
    Doch dann kommt ein Anruf: Die Ferienhütte, in die es gehen sollte, ist abgebrannt. Wie verheerend es in ihrer Beziehung aussieht, versucht das Paar schließlich auf einem einsamen Bauernhof auszuloten. Seit 30 Jahren sind Rahel und Peter verheiratet, er ist Germanistikprofessor in Dresden, sie Paartherapeutin. Ihr Sexualleben ist eingeschlafen, die Kinder sind aus dem Haus, und auch die gemeinsamen Interessen scheinen über die Jahre verloren gegangen zu sein.
    Auf einem abgeschiedenen Bauernhof in der Uckermark beziehen Rahel und Peter getrennte Zimmer und versuchen zu klären, ob ihr Paarleben noch mehr zu bieten hat als die Tagesroutine eines gemeinsamen Abendbrots. In einer klaren, fast nüchternen Sprache bringt Daniela Krien die Mechanismen vieler festgefahrener Paarbeziehungen auf den Punkt. Doch ihr Roman ist weit mehr als bloße Beziehungsanalyse. Wie nebenbei schleichen sich drängende Themen des Zeitgeistes in die Geschichte: die Gender-Debatte, Generationenkonflikte, die zunehmende Sprachlosigkeit zwischen Teilen unserer Gesellschaft oder das Unbehagen vieler Ostdeutscher gegenüber einer vermeintlichen Wessi-Überheblichkeit.
    Empfehlung Denis Scheck: „Die Anomalie“ von Hervé Le Tellier (Rowohlt): „Ohne Zweifel Weltliteratur“ urteilt Denis Scheck über den nun endlich ins Deutsche übersetzten Roman des Franzosen Hervé Le Tellier. Der wagt ein Gedankenexperiment: Was, wenn es von uns allen Doppelgänger gäbe? Denis Scheck sagt: „Stellen Sie sich vor, es gäbe Sie plötzlich zweimal.
    Ja, richtig: von einer Sekunde auf die andere wären Sie plötzlich zu zweit. Sie und Ihr Zwilling lebten in ein und derselben Welt – mit denselben Erinnerungen, denselben Fingerabdrücken, denselben Narben. Das ist das Gedankenspiel, das Hervé Le Tellier in seinem grandiosen Roman „Die Anomalie“ unternimmt. Der Ausgangspunkt: Flug Air France 006 von Paris nach New York gerät am 10. März dieses Jahres in einen Jahrhundertsturm.
    Der Pilot schafft es, trotz aller Widrigkeiten die Boeing 787 sicher auf dem Flughafen JFK zu landen. Doch 106 Tage später taucht dieselbe Maschine mit denselben Passagieren und derselben Besatzung wieder am Himmel über New York auf … Und damit ist ein geniales Tableau geschaffen für einen Roman, der gleichermaßen spannend wie profund von den Konsequenzen dieser Verdoppelung erzählt. Was bedeutet die Anwesenheit der Duplikate politisch – aber auch philosophisch und theologisch? Sind wir vielleicht nur Programme, die beliebig vervielfältigt werden können? Leben wir am Ende in einer gigantischen Computer-Simulation? „Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“, lässt Hervé Le Tellier eine seiner Figuren Friedrich Nietzsche zitieren.
    Mit „Die Anomalie“ hat er in Frankreich den prestigeträchtigsten Literaturpreis Prix Goncourt gewonnen. Ohne Zweifel ist dieser Roman Weltliteratur.“ Und wie immer: Denis Schecks erfrischend pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste, diesmal Belletristik. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereSo 12.09.2021Das Erste
  • 30 Min.
    In der nächsten Ausgabe von „Druckfrisch“ spricht Denis Scheck mit Husch Josten, 1969 in Köln geboren, über Hummersuppe, menschliche Abgründe und ein Ferienhaus in der Normandie sowie mit Antje Rávik Strubel, 1974 in Potsdam geboren, über toxische Beziehungen, fremde Länder und verwirrende Begegnungen. Mit ihrem neuen Roman ist sie für den Deutschen Buchpreis nominiert.
    Husch Josten: Eine redliche Lüge
    Ein glamouröses Paar mittleren Alters, ein prachtvolles Ferienhaus an der französischen Atlantikküste und viele nette Leute, die zu Besuch kommen: Könnte wieder ein schöner Sommer werden! Man geht am Strand spazieren, abends gibt es Cocktails und Gespräche. Perfekte Gastgeber, angenehme Musik, gepflegte Manieren. Man spricht gern über Bücher. Und dann geht das Gemetzel los. Dass Husch Josten die eskalierenden Dialoge dieser Leute mit einiger Freundlichkeit betrachtet, macht es nur böser, dramatischer, komischer – und es bereitet raffiniert den großen Moment vor, in dem endlich ein finsteres Geheimnis enthüllt wird. Eine Bombe, eine Lebenslüge, eine Katastrophe. Dieser Roman ist eine brillant spannende Gesellschaftssatire in mildem Sommerlicht, unterfüttert mit klugen Beobachtungen sozialer Verwerfungen und geschmeidiger Mittelstandslügen, perfekt arrangiert und höchst appetitlich angerichtet.
    Antje Rávik Strubel: Blaue Frau
    Heißt sie nun Adina? Oder Sala? Doch Nina? Oder ist sie einfach nur ein „kleiner Mohikaner“? Die zarte junge Frau aus einem Skifahrerdorf im tschechischen Riesengebirge ist in Helsinki gestrandet, studiert oder arbeitet, man weiß es nicht so genau, sortiert Erinnerungen, Traumata und Identitäten. Sie versucht, vielleicht zum ersten Mal, wirklich sie selbst zu werden, als ihr irgendwo draußen in einer Bucht am Meer die blaue Frau erscheint. Es beginnt ein Gespräch zwischen Adina und der blauen Frau, das gar nichts Märchenhaftes hat. Denn es geht um das Heute, um die schwierige Gegenwart Europas wie das fragile Leben der Frau, die wohl doch Adina heißt, und die, verunsichert, verängstigt nach einem sexuellen Übergriff, ihren Weg ins Morgen sucht. Antje Rávik Strubel erzählt das zwingend und schön, psychologisch klar und streng ausdifferenziert, vor dem fahlen Leuchten der finnischen Landschaft: eine große, berührende Geschichte.
    Außerdem, wie immer, Denis Schecks Kommentar zu den Büchern auf der aktuellen „Spiegel“-Bestsellerliste (diesmal: Belletristik) und eine ganz persönliche Empfehlung: „Das Ereignis“ von Annie Ernaux. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereSo 10.10.2021Das Erste
  • 30 Min.
    In der nächsten Ausgabe von „Druckfrisch“ spricht Denis Scheck mit der 1975 in Münster geborenen Philosophin und Autorin Svenja Flaßpöhler über zu wenig und zu viel Sensibilität sowie mit Berliner Schriftstellerin Julia Franck, Jahrgang 1970, über eine Kindheit ohne Sicherheiten.
    Svenja Flaßpöhler: Sensibel
    Wir sind wachsam geworden: für Diskriminierung und Rollenklischees, für seelische und sprachliche Gewalt, für Ausgrenzung und Unterdrückung. Das alles markiert zweifellos einen zivilisatorischen Fortschritt. Sensible Menschen achten einander und aufeinander. Aber warum ist gleichzeitig die Gesellschaft so erregt? Warum eskalieren Debatten sofort zu Freund-Feind-Diskursen? Wieso stiftet die erhöhte Sensibilität kein neues Miteinander? Svenja Flaßpöhler beobachtet, dass eine eigentlich positive Entwicklung gerade ins Gegenteil zu kippen droht. Identität, gendergerechte Sprache, politische Korrektheit – bei solchen Themen stünden auf allen Seiten oft nur noch Gefühle im Vordergrund.
    Man sucht Schutz vor Verletzung, igelt sich ein oder wird aggressiv. Die Gesellschaft zersplittert, Meinungsblasen werden wichtiger als rationale Auseinandersetzung, der Diskurs fährt sich fest. Wir müssen neu lernen, so Flaßpöhler, Widersprüche auszuhalten und über sie zu streiten. Ohne Resilienz, also besonnene Widerstandskraft, werde uns das nicht gelingen. „Sensibel“ ist ein kluges Buch über die Dialektik unseres reizbaren Zeitgeistes und über Wege, seine Blockaden zu überwinden.
    Julia Franck: Welten auseinander
    Eine „Nomadenkindheit“ nennt Julia Franck die Anfangsjahre ihres eigenen Lebens zwischen Ost-Berlin, Schleswig-Holstein und dann West-Berlin. In ihrem neuen Buch schildert die Autorin ihre ebenso freien wie unbehüteten Jahre unter Erwachsenen, die sich als Bohèmiens um sich und ihre Kunst, aber kaum um die Kinder kümmerten. Die Erfahrung, anders zu sein. Die Suche nach einem eigenen Weg, einer eigenen Sprache. Ihr Milieu und das der anderen Kinder und Jugendlichen liegen „Welten auseinander“. Im Grunde, auch das meint der Titel, leben wir aber alle in unserer ganz eigenen Wirklichkeit: „Wir erinnern uns an Ereignisse und unsere nächsten Menschen vollkommen unterschiedlich – so unterschiedlich, wie wir für uns selbst und voneinander träumen.“ Kein Roman, kein Memoir – Julia Franck sucht mit diesem leisen, intensiven Buch nach der „Fremden“, die sie selber ist: in Erinnerungen an schöne und schmerzhafte Momente, die aus ihr eine Schriftstellerin gemacht haben.
    Denis Scheck empfiehlt „Solneman der Unsichtbare“ von Alexander Moritz Frey. Die Wiederentdeckung eines skurril-anarchischen Romans von 1914, in dem ein schwerreicher Lebemann eine verklemmte Kleinstadt erst verzaubert und dann zur Raserei bringt (mit einem Nachwort von Sibylle Lewitscharoff).
    Und natürlich gibt es wieder den kritischen Blick auf die „Spiegel“-Bestsellerliste (diesmal: Sachbuch). (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereSo 31.10.2021Das Erste
  • 30 Min.
    Ein über zweieinhalb Kilo schwerer Fotoband über die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel und ein verstörender Roman der französischen Autorin Marie NDiaye beschäftigen Denis Scheck in der November-Ausgabe von „Druckfrisch“.
    „Angela Merkel. Portraits 1991–2021“ von Herlinde Koelbl : 31 Jahre lang hat die Fotokünstlerin Herlinde Koelbl Angela Merkel mit der Kamera begleitet. Nicht einfach nebenbei. Sondern stets bei einem persönlichen Termin, in aller Ruhe und vor sachlich weißem Hintergrund. Entstanden ist ein einzigartiges Dokument.
    Die Fotoserie beginnt, 15 Jahre bevor Angela Merkel zur ersten deutschen Bundeskanzlerin gewählt wird. Merkel ist mit 37 Jahren neu im Bundestag und gilt als politische Außenseiterin. Helmut Kohl macht die Ostdeutsche zur Ministerin für Frauen und Jugend, eine Art Resteministerium. Doch die Fotografin Herlinde Koelbl beginnt damals ihr außergewöhnliches Projekt. Mit kurzen Unterbrechungen trifft sie die spätere Kanzlerin jährlich zu einem Fototermin. Es entstehen Kopf- und Körperportraits, aber auch einfühlsame Interviews, in denen sich die sonst eher verschlossene Angela Merkel erstaunlich öffnet, über sich selbst und ihr Verhältnis zu Medien und Öffentlichkeit spricht.
    Erste Bilder dieser Fotoserie erschienen unter anderem in Herlinde Koelbls Langzeitstudie „Spuren der Macht“, in der sie neben Merkel auch andere Spitzenpolitiker wie Gerhard Schröder oder Joschka Fischer portraitierte. Dass Koelbl aber Angela Merkel Jahr für Jahr immer weiter traf, war bislang unbekannt. Das Ergebnis: eine Art Opus Magnum der Fotokünstlerin. Es offenbart die Spuren, die die Macht aber auch das Leben auf dem Menschen Angela Merkel hinterlassen haben, und ist ein beeindruckendes Dokument der deutschen Zeitgeschichte.
    „Die Rache ist mein“ von Marie NDiaye : Wie sehr trügen einen die eigenen Erinnerungen? Was ist Wahn und was Wirklichkeit? Marie NDiaye führt ihre Leserschaft auf ein unsicheres Terrain. Das alles vor dem Hintergrund eines entsetzlichen Kindsmords.
    Der Fall ist grausam und viel diskutierter Stoff der französischen Boulevard-Zeitungen: Eine Mutter tötet ihre drei kleinen Kinder, darunter ein Baby, das noch gestillt wird. Ihr Ehemann bittet die eher mäßig beschäftigte Anwältin Maître Susane, die Verteidigung zu übernehmen. Denn trotz der grausamen Tat hält er an der unzerstörbaren Liebe zu seiner Frau fest. Nur eine von vielen dysfunktionalen Beziehungen im neuen Roman der französischen Schriftstellerin Marie NDiaye.
    Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der Anwältin Maître Susane. Die meint im Ehemann der Mörderin einen Mann aus ihrer Vergangenheit wiederzuerkennen. War es eben dieser Gilles, der sie als Zehnjährige mit auf sein Zimmer nahm und ihr Leben für immer veränderte? Für Maître Susane, soviel steht fest, war es ein einschneidendes Erlebnis, nach dem sie entschied, Anwältin zu werden und sich die Haare kurz zu schneiden. Aber was ist eigentlich geschehen? Und handelt es sich am Ende gar um eine Verwechslung? Alles könnte mit allem zusammen hängen, oder auch nicht. Die Gewissheiten in Marie NDiayes Roman sind wie wackelnde Planken einer notdürftig gebauten Brücke. Wer darüber tastet, droht den Boden unter den Füßen zu verlieren. So gelingt NDiaye eine Geschichte zwischen Psycho-Thriller, Sozialstudie und großem Rätsel, dessen Geheimnisse nie ganz gelüftet werden.
    Empfehlung Denis Scheck: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust und „Das Proust-ABC“ von Ulrike Sprenger: Die persönliche Empfehlung von Denis Scheck: Mal wieder Marcel Proust lesen! Bei der Lektüre hilft, ergänzt und bereichert ein neu aufgelegtes Proust-ABC.
    Dazu ein Auftritt der Blues-Skiffle Band „Black Patti“. Und wie immer: Denis Schecks erfrischend pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste, diesmal Belletristik. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereSo 21.11.2021Das Erste
  • 30 Min.
    Felicitas Hoppe – Die Nibelungen:
    Auf dem Domplatz zu Worms präsentiert eine Schauspieltruppe das Nibelungenlied als Theateraufführung – und dieses Grundgeschehen wird von Felicitas Hoppe zum Lustspiel über Zitat, Ironie und die zersetzende Kraft der Literatur.
    „Uns ist in alten mæren wunders vil geseit /​ von helden lobebæren, von grôzer arebeit, /​ von fröuden hôchgezîten, von weinen und von klagen, /​ von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.“ So hebt das Nibelungenlied an, dieses Heldenepos, das in seiner Rezeptionsgeschichte so verehrt, verdeutet, verkitscht und missbraucht wurde, das ideologisch so beladen und dann doch als Kunstwerk einzigartig ist.
    Der blonde Siegfried, der dunkle Hagen, die gezähmten Frauen Kriemhild und Brunhild, der Durst nach dem Schatz und des Drachen Ende. Hinter schwarzen Texttafeln, die wie im Stummfilm die Kapitel ankündigen, experimentiert Felicitas Hoppe lustvoll mit dem Mythos, dekonstruiert und setzt neu zusammen. Und fährt in literarischem Schnelltempo der Frage hinterher: Wie war’s wohl? Wie geht die wahre Geschichte der Nibelungen, dieser europäischen Helden, die in Island oder Norwegen beginnt, am Rhein entlang spielt, die Donau runter erzählt wird und schließlich im Schwarzen Meer mündet?
    Die Literatur darf alles, auch hier ein neues Lied erfinden. Felicitas Hoppes neuer Roman feiert das Zitat und den Ideenklau, die zersetzende Wirkung des Märchens und die Lust am Kontext.
    Die Autorin scheint nicht zufällig in der Rattenfängerstadt Hameln geboren, Mythen und Mären beschäftigen sie immer wieder, in Romanen genauso wie in ihren Kinderbüchern. „Die Nibelungen“ war 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Mit Denis Scheck spricht Felicitas Hoppe über ihre produktive und genresprengende literarische Werkstatt und darüber wie viel Mut man braucht, um sich ins altgermanische Schlachtengetümmel zu stürzen. Schließlich, wie heißt es im Motto dieses Romans: „Nur Helden fürchten sich nie, deshalb schreiben sie keine Bücher.“
    Cécile Wajsbrot: Nevermore:
    Ein Puzzle zur Geschichte des 20. Jahrhunderts: Anhand der Erzählung um eine Übersetzerin führt die Französin Cécile Waijsbrot subtil und sinnlich von Paris nach Dresden. Ein Changieren zwischen dem Kollektiven und dem Privaten, welches bekanntlich immer politisch ist.
    Eine Freundin stirbt, eine Ortswechsel soll die Übersetzerin aus ihrer Trauer herausbringen. Nach Dresden zieht es die Ich-Erzählerin, im Gepäck Virginia Woolfs Roman „To the Lighthouse“, den sie ins Französische übertragen soll. Nächtliche Spaziergänge führen sie zu Erscheinungen der toten Freundin, die fortschreitende Übersetzung färbt ihre Wahrnehmung ein …
    Cécile Wajsbrot erzählt in ihrem neuen Roman „Nevermore“ von zwei großen Themen. Einmal geht es um Tod und Vergänglichkeit und damit auch um die Frage: Was bleibt von uns, wenn wir sterben? Gibt es ein Wiedersehen nach dem Tod? Als zweites großes Thema wird hier unheimlich und grandios geschildert, was literarisches Übersetzen bedeutet. Cécile Wajsbrot lässt einen ganz nah an diesem Prozess teilhaben, an all den Gedankenschleifen des Übersetzens – und Anne Weber hat dies beeindruckend ins Deutsche übertragen. Cécile Wajsbrod, 1954 als Tochter polnischer Juden in Paris geboren, Literatin, Übersetzerin, lebt heute abwechselnd in Paris und Berlin. Grade wurde sie zur neuen Vize-Sektionsleiterin Literatur der Akademie der Künste in Berlin gewählt.
    Mit Denis Scheck spricht sie darüber, wie ihr mit „Nevermore“ ein geistfunkelnder Abenteuerroman gelungen ist, in dem die Toten wiederkehren und die Lebenden trotzdem mit dem „Nevermore“ des Wiedersehens umgehen müssen.
    Empfehlung Denis Scheck: Marieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Prachttier. Aus den Niederländischen von Helga van Beuningen:
    Ein Roman, der von der alles verzehrenden Liebe eines 49-jährigen Tierarztes zu einer 14-jährigen Bauerstochter erzählt. Angesiedelt ist dieser Roman im calvinistischen Bible Belt der Niederlande. Dieses lustfeindliche christliche Umfeld sorgt für reichlich Neurosen und so wundert es denn nicht, dass Mann und Mädchen, die Rijneveld wie zwei Güterzüge auf einer eingleisigen Bahnlinie aufeinander zurasen lässt, schwer traumatisiert sind. Der Tierarzt wurde als Kind von seiner Mutter sexuell missbraucht. Aber erklärt das wirklich die übergriffige Obsession dieses Mannes? Große Kunst, schwer auszuhalten.
    Und wie immer: Denis Schecks pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste, diesmal Sachbuch, musikalisch eingeläutet von einem überraschenden Archivfund. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereSo 12.12.2021Das Erste
  • 30 Min.
    Harald Schmidt: In der Frittatensuppe feiert die Provinz ihre Triumphe:
    Auch so kann man sich einem Jahrhundertschriftsteller nähern: mit Wirtshausbesuchen. Thomas Bernhard war ein notorischer Grantler und Menschheitsbeschimpfer, aber auch ein passionierter Besucher von Gaststätten und Kaffeehäusern. Bernhard-Fan Harald Schmidt hat einen Text-Bild-Band herausgegeben, in dem er und zahlreiche Autorinnen und Autoren eine kulinarische Spurensuche unternehmen. Kann man einen Autor besser verstehen, wenn man weiß, was und wo er gegessen und getrunken hat? Kein Kochbuch, sondern der Versuch zu beweisen, dass auch Literatur durch den Magen geht.
    Aboud Saeed: Die ganze Geschichte:
    2013 kam er zu einer Lesung aus seiner syrischen Heimat nach Berlin – und blieb: Aboud Saeed, Metallarbeiter und Blogger. Sein erstes Buch, aus dem er damals las, trug den bescheidenen Titel: „Der klügste Mensch im Facebook“. Seit neun Jahren wohnt er nun im Land derer, „die früher manchmal als Touristen bei uns vorbeischneiten oder die wir im Fernsehen sahen. Und jetzt lebe ich mitten unter ihnen. Alle um mich herum sind Ausländer.“ Sein neues Werk, „Die ganze Geschichte“, ist Saeeds Autobiografie, montiert aus einer langen Reihe von Facebook-Posts. „Von Manbidsch nach Berlin.
    Von Grillkebab und Lahmacun zu Pizza und Pommes. Vom Gedränge, wo sich jeder ständig in dein Leben einmischt, zur Einsamkeit, wo sich kein Mensch um dich schert. Vom Land des Todes zum Land der Biokost.“ Heimatverlust, Fremdheit, Vorurteile, aber auch Neugier, Stolz und ein untrüglicher Blick für die absurden Widersprüche des Alltags: Ein Buch über das Leben zwischen allen Stühlen, ein wunderbar temporeicher Text zwischen Angeberei, Selbstironie, Verzweiflung und Hoffnung. Aboud Saeed, Jahrgang 1983, arbeitet auch in Berlin in seinem gelernten Beruf – im Atelier des Künstlers Olafur Eliasson.
    Denis Scheck empfiehlt „Erzählende Affen – Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen“ von Samira El Ouassil und Friedemann Karig.
    Und wie immer kommentiert er die aktuelle SPIEGEL-Bestsellerliste, diesmal Belletristik. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereSo 23.01.2022Das Erste
  • 30 Min.
    Der Historienroman von Bestseller-Autor Orhan Pamuk über Menschen in der Epidemie. Und eine Reise durch Deutschland mit den Augen des spanischen Schriftstellers Fernando Aramburu. „Druckfrisch“ schaut auf Bekanntes, aber aus neuen Blickwinkeln.
    „Die Nächte der Pest“ von Orhan Pamuk
    Quarantäne, Reiseverbote und unbelehrbare Seuchen-Leugner. Es ist alles schon da gewesen. Nur viel früher. Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk erzählt von der Pest Anfang des 20. Jahrhunderts auf einer Insel im osmanischen Reich.
    Im Jahr 1901 bricht auf der Mittelmeer-Insel Minger die Pest aus. Ein Quarantäne-Arzt und Abgesandter des Sultans soll die Lage in den Griff bekommen. Doch er trifft auf Ablehnung, Nationalismus und Aberglaube. Die einen leugnen die Gefahr der Seuche, die anderen suchen Schuldige. Der tödliche Erreger droht die osmanische Insel, auf der orthodoxe Griechen und muslimische Türken zusammenleben, noch stärker zu spalten. Und die Schiffe des Sultans wie auch die der westlichen Mächte errichten eine Seeblockade.
    Unter dem Druck von innen wie von außen wandelt sich das Leben auf Minger immer mehr in ein autokratisches Regime. Das weist derart viele Parallelen zur heutigen Türkei auf, dass sich Orhan Pamuk mit der Veröffentlichung der türkischen Ausgabe seines Romans bereits eine Klage wegen „Beleidigung Atatürks und der türkischen Fahne“ einhandelte. In erster Instanz wurde die Klage abgewiesen. Denis Scheck hat den Schriftsteller in Istanbul getroffen. Aus dem Türkischen übersetzt wurde der Roman von Gerhard Meier.
    „Reise mit Clara durch Deutschland“ von Fernando Aramburu
    Es ist, wie Fernando Aramburu sagt, sein „glücklichstes Buch“. Ein autofiktionaler Roman über eine lange Autoreise mit seiner Frau Clara durch Deutschland. Ein Buch, das erzählt, wie es ist, wenn ein Spanier auf die graue deutsche Provinz trifft.
    Pinkelt ein anarchistischer Spanier auf den Kreidefelsen von Rügen. Von dieser Ungeheuerlichkeit ist gerade viel zu lesen in den Rezensionen, die zu Fernando Aramburus „Reise mit Clara durch Deutschland“ erschienen sind. Das deutsche Nationalheiligtum – besudelt von einem erfolglosen, zu Sarkasmus neigenden Schriftsteller, der seine Ehefrau für eine Recherchereise durch die norddeutsche Tiefebene begleitet. Die soll einen Reiseführer über Deutschland schreiben. Am Ende scheitert das Projekt – doch heraus kommt ein früher Roman des baskischen Autors Fernando Aramburu.
    Auf Spanisch erschien das Buch bereits im Jahr 2010. Nachdem Aramburu mit seinem Roman „Patria“ auch in Deutschland eine Fangemeinde aufgebaut hat, liefert der Verlag nun bisher Unübersetztes nach. Für „Druckfrisch“ traf Denis Scheck den Autor in seiner Wahlheimat Hannover. Übersetzung des Romans: Willi Zurbrüggen.
    Empfehlung Denis Scheck: „Dark Rome“ von Michael Sommer
    Ein Sachbuch, das auf die dunkle Seite des Römischen Reiches führt. Michael Sommer erzählt eine Sittengeschichte des Imperiums. Anekdotenreich, faktensatt und voller historischer Rätsel. Denis Scheck meint: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Was der deutsche Althistoriker Michael Sommer in seinem äußerst kurzweiligen Buch „Dark Rome“ über das geheime Leben der Römer daraus zutage fördert, liest sich faszinierend. War Marc Aurel opiumsüchtig? Wie viele Kaiser starben eines natürlichen Todes, wie viele wurden vergiftet, erschlagen oder von Usurpatoren vom Purpur entkleidet? Und warum zwang Kaiser Augustus Römern und vor allem Römerinnen eine neue Prüderie auf und schritt per Gesetz gegen die legere Sexualmoral am Ende der Republik ein, die Ovid in den unsterblichen Vers fasste: „mille ioci Veneris“, „tausend Spiele kennt die Liebesgöttin Venus“?
    Michael Sommer erzählt klug und differenziert von Kaisern und Aufständischen, von Bettgeschichten, Geheimschriften und Wunderwaffen, aber auch von Hochstaplern, Attentätern, Giftmischerinnen – und von dem nicht genug zu beklagenden Verlust durch Büchervernichtungen im fünften und sechsten Jahrhundert. „Wir kennen rund 2000 griechische Autoren mit Namen“, so Sommer. Nur von 253 haben sich überhaupt Texte erhalten. Bei den lateinischen Autoren liegt das Verhältnis bei 772 zu 144.“ Und dennoch ist in dem wenigen, was überlebt hat, noch unendlich viel zu entdecken.“
    Außerdem in „Druckfrisch“: Musik des südafrikanischen Pianisten Abdullah Ibrahim. Und wie immer: Denis Schecks erfrischend pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste, diesmal Sachbuch. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereSo 27.02.2022Das Erste
  • 30 Min.
    Das Herz der Finsternis: Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah über eine Jugend in Ostafrika – und die Schrecken des Kolonialismus!
    Löwen gibt es, Schlangen, glühendäugige Hunde, Würmer, die sich ins Ohr nagen, und andere wilde Tiere, auch wird das Licht der Sonne immer grüner, je näher man den Bergen kommt, am gefährlichsten aber sind die Menschen einander, die Araber, Inder, die Leute von der Küste wie die aus dem Inneren des Landes, und die grausam kalten Deutschen natürlich, die alle jene Gegend Afrikas besiedeln, in die Yusuf hineingeboren wird, um staunend zu erleben, wie die Welt seiner Kindheit einfach verschwindet. „Erst der Junge. Sein Name war Yusuf, und in seinem zwölften Jahr verließ er ganz überraschend sein Zuhause.
    Er erinnerte sich, es war die Zeit der Dürre, in der ein Tag war wie der andere. Unvermutete Blumen blühten auf und welkten. Seltsame Insekten flüchteten aus ihrem Versteck unter Felsbrocken und wanden und krümmten sich in dem gleißend heißen Licht, bis sie starben. Die Sonne ließ Bäume in der Ferne zittern und die Häuser leicht schwanken und nach Atem ringen. Jeder verirrte Fußball wirbelte Staubwolken auf, und über den Tagesstunden lastete angespannte Stille.“ So beginnt dieser schon vor fast 20 Jahren erschienene und erst jetzt auf Deutsch wieder verfügbare Roman.
    Abdulrazak Gurnah entfaltet in der Folge nicht weniger als einen literarischen Kontinent. Es ist das ausgehende 19. Jahrhundert, in dem das heutige Tansania von deutschen, britischen und belgischen Kolonialisten beansprucht wird, während die Einheimischen arbeiten, hungern, schmuggeln. Eine Versuchsanordnung fürs Scheitern ohne Grund, schwelende Katastrophe unter ewig glasender Sonne. Gurnahs klare, eindrückliche, immens anschauliche Sprache erschließt in diesem dramaturgisch eleganten Roman eine Welt, von der wir immer noch zu wenig wissen: Eine phantastische Reise, ein Abenteuer auf Leben und Tod, in aller Schönheit!
    Der Mittelpunkt der Welt: Katerina Poladjan über eine sowjetische Wohngemeinschaft – und das geheimnisvolle Wesen der Russen!
    Böse Menschen haben keine Lieder. Und dass der Russe gerne singt, wissen wir aus vielen lustigen Filmen. In der bröckelnd alten Gemeinschaftswohnung, 1000 Meilen östlich von Moskau, in der Maria Nikolajewna mit ein paar anderen haust, wird also musiziert, gekocht, intrigiert, getuschelt, und am Abend will Janka in der Küche ein Konzert geben. Aber die Gitarre ist zerbrochen, und außerdem scheint irgendetwas passiert zu sein: Sie spielen dauernd Chopins Trauermarsch im Radio. „Ein Scheißleben haben wir, sagte Maria Nikolajewna. Sie reichte Matwej eine Tasse Tee, setzte sich zu ihm an den Tisch und beugte sich über die Schachtel mit dem Konfekt.
    Im selben Augenblick stellte sie offenbar fest, dass dieser Satz, den sie oft und gern sagte, gerade gar nicht passte. Wohl daher fügte sie schnell hinzu: Und nicht mehr lange, dann wird es auch wieder Frühling, und die Birken bekommen kleine grüne Blättchen.“ Und schon sitzen auch wir in dieser Kommunalka, an einem ganz normalen Tag im März des Jahres 1985, atmen das Aroma von Braunkohlenrauch und Schweiß und gekochtem Fleisch mit Reis, hören den Menschen beim Reden und Schnaufen zu und beginnen, jedenfalls glauben wir das schnell, die Russen zu verstehen.
    Und von dieser Maria, Janka, von Matwej und den Karisen, dem Professor, den Kosolapijs und der Liebermann erzählt Katerina Poladjan hier so geschmeidig, lakonisch, so schonungslos genau wie berührend warmherzig, dass wir tatsächlich etwas lernen über das Hoffen und das Begehren in dunkleren Zeiten: Selbst das einfache Weitermachen hilft, ein bisschen wenigstens, denn irgendwo gibt es dann doch immer Licht. Ein kleiner und kluger und wunderschöner Roman!
    Außerdem Denis Schecks Kommentar zu den Büchern auf der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste (diesmal Belletristik) und eine ganz persönliche Empfehlung: Katharina Adler, „Iglhaut“. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereSo 27.03.2022Das Erste
  • 30 Min.
    Döris Dörrie: „Die Heldin reist“:
    In jedem Drehbuch-Grundkurs ist sie das dramaturgische Strickmuster: die „Heldenreise“. Protagonist – Herausforderung – Krise – Kampf – Sieg, das ist das Schema für eine spannende Story seit Ilias und Odyssee. Regisseurin und Autorin Doris Dörrie hinterfragt in ihrem neuen Buch die Männlichkeitsmuster, die dieser Art von Heldentum zugrunde liegen: „Lädiert, aber triumphierend kehrt der Held heim, bekommt die Frau, das Haus und das Auto und befreit auch gleich noch die daheimgebliebenen Jammerlappen.“ Wie klängen stattdessen weibliche Heldengeschichten? Wie wäre es, auf Testosteron, Pathos und Drama zu verzichten und von den Kämpfen des Alltags zu erzählen? Doris Dörrie berichtet in diesem sehr persönlichen Buch von drei Reisen, nach San Francisco, Tokio und Marrakesch, sie denkt nach über die Zwänge und Freiheiten ihres Berufs und über Männer, gegen die sie sich in früheren Jahren viel zu selten gewehrt hat.
    Auch Heldin wird man erst unterwegs. Und Reisen, schreibt Dörrie über ihre größte Leidenschaft, sind der beste Weg, mehr über sich selbst zu erfahren.
    Senthuran Varatharajah: „Rot (Hunger)“:
    Der Fall des „Kannibalen von Rotenburg“, ein einvernehmliches Verbrechen zweier Männer, provoziert Schrecken, Ungläubigkeit und Faszination. Auf dem Boulevard, aber seit langem auch in der Welt der Kunst. Senthuran Varatharajah beginnt sein Buch über diese extreme Brutalität mit den Worten: „Das ist eine Liebesgeschichte.“ Er hat einen sehr eigenwilligen Text verfasst, der die radikale, tödliche Verbindung der beiden Männer zum Anlass nimmt, Begehren, Sprache und Einsamkeit poetisch zu reflektieren. Obwohl er die blutige Tat beschreibt und die vorausgehende Korrespondenz der beiden zitiert, ist dies keine sensationsgeile Story. Vielmehr eine Meditation darüber, wo schon in unseren Sprachbildern und Phantasien die Wunschvorstellung steckt, sich das geliebte und doch unerreichbare Andere einzuverleiben. Ein kühner Text über Liebe, Grausamkeit und Grenzüberschreitungen.
    Denis Scheck empfiehlt:
    „Das Traumbuch“ von Martin Walser und Cornelia Schleime. Und wie immer kommentiert er die aktuelle SPIEGEL-Bestsellerliste, diesmal Sachbuch. (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereSo 01.05.2022Das Erste
  • 30 Min.
    Annie Ernaux: Ein literarisches Ereignis:
    Sie sind schmal, dicht und ungeheuer: Die Romane der Französin Annie Ernaux kehren ein Leben ins Außen, es ist ihres. Seit 1974 schreibt sich die mittlerweile 81-Jährige in ihre eigene Biografie. Sie konstruiere keine Romanfiguren, sondern dekonstruiere das Mädchen, das sie gewesen sei, sagte sie einmal. Unter der Hand gelingt ihr damit die Beschreibung einer Epoche.
    Für dieses Schreiben, das oftmals mit dem Marcel Prousts verglichen wird und das die Grenzen von Scham, Moral, Norm negiert, das trotzdem niemals bewertet hat sie gerade einen weiteren Preis bekommen: den mit 25.000 Euro dotierten Würth-Preis für Europäische Literatur. Gewürdigt wird damit zudem ein Schreiben, das den unsichtbaren Klassismus in unserer Gesellschaft offenlegt und die staatlichen Repressalien gegenüber Frauen, die sich nicht in ihre zugeteilten Plätze fügen.
    Annie Ernaux wächst in kleinen Verhältnissen in der Normandie auf, arbeitet als Lehrerin, bis sie mit dem Projekt ihrer eigenen Ethnologie beginnt. In Büchern wie „Die Jahre“ oder „Die Scham“ begeistert sie mit der Verquickung einer distanzierten Erzählpersönlichkeit und dem kollektiven Erleben. Ihr Roman „Das Ereignis“ ist gerade verfilmt worden. Die Geschichte einer jungen Literaturstudentin, die 1963 schwanger wird und eine ebenso illegale wie traumatische Abtreibung hinter sich bringen muss.
    Im Gespräch mit Denis Scheck spricht Annie Ernaux über ihr feministisches Schreiben und wie sie als literarische Soziologin agiert.
    Annie Ernaux: „Die Scham“, „Das Ereignis“, „Erinnerung eines Mädchens“ u. v. m. übersetzt von Sonja Finck
    Fatma Aydemir: Die Geister, die man rief:
    Anhand mehrerer Generationen der Familie Yilmaz führt Fatma Aydemir in die Seele von Arbeitsmigranten im „kalten, herzlosen“ Deutschland, zu den Geistern der Vergangenheit und Gegenwart und in den Gendertrouble vor über 20 Jahren.
    Ein Dschinn ist ein Geist, aber er kann Dämon oder Schutzgottheit gleichermaßen sein. In Fatma Aydemirs Buch sind gleich mehrere körperlose Wesen unterwegs, die für das stehen, was nicht gesagt, nicht kommuniziert wird. Sechs Kapitel führen zu den persönlichen Dschinns der Familie Yilmaz, die in Istanbul zusammenkommt, weil der Vater dort einem Herzinfarkt erliegt. Fast dreißig Jahre lang hat er auf eine Wohnung in seiner Sehnsuchtsstadt hingearbeitet, hat seinen Körper im Ruhrgebiet zerschlissen, aber die neue Heimat, die er seiner Familie damit bereiten will kann er nicht mal einen Tag lang genießen.
    Zur Beerdigung trifft man sich im heißen Istanbuler August. Zwei Söhne und zwei Töchter und auch seine Frau Emine, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist, tragen ihre eigenen Päckchen: Frausein in einer patriarchalischen Gesellschaft, Junge sein in einem heteronormen Umfeld, Studentin sein mit bildungsfernem Hintergrund … alle diese Konflikte kommen mit eigenen Stimmen und eigener Musikalität zur Sprache. „Dschinns“ ist Fatma Aydemirs zweiter Roman nach ihrem preisgekrönten Debüt „Ellbogen“. Die Zeit zum Schreiben muss sich die 1987 in Karlsruhe geborene Aydemir neben ihrem Job als Journalistin und Kolumnistin nehmen.
    Ihre literarischen Themen nimmt sie aus der eigenen Biografie: Ihre Großeltern sind als Arbeitsmigranten aus der Türkei nach Deutschland gekommen, als Fatma Aydemirs Eltern Teenager waren. Für die genaue Schilderung der Befindlichkeiten hat die Autorin viele Gespräche während des Schreibprozesses geführt. Im Gespräch mit Denis Scheck erzählt sie über die Entstehung dieses Familienromans, der genauso sanft wie wütend, genauso aktuell wie zeitlos ist und eine große Leseempfehlung dieses Frühjahrs.
    Fatma Aydemir: Dschinns
    Empfehlung Denis Scheck: Lucy Fricke: Die Diplomatin:
    Eine Selfmade-Frau wird in eine blutige Entführung verwickelt und in diktatorische Machenschaften in der Türkei … Lucy Fricke gelingt das Kunststück, einen höchst spannenden, unterhaltsamen und humorvollen politischen Roman aus der Welt der Diplomatie zu schreiben, deren Regel Nummer eins lautet: „Lächeln, lügen, Lachs fressen“. Ein Buch, dem die Quadratur des Kreises gelingt.
    Und wie immer: Denis Schecks pointierte Revue der Spiegel-Bestsellerliste, diesmal Belletristik, musikalisch eingeläutet von dem renommiertesten deutschen Bariton Christian Gerhaher! (Text: ARD)
    Deutsche TV-PremiereSo 22.05.2022Das Erste

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