„Luden – Könige der Reeperbahn“ zeigen St. Pauli mit Gewalt, Sex, Witz und Verzweiflung – Review

Prime Video überrascht mit Darsteller aus „Im Westen nichts Neues“

Stefan Genrich
Rezension von Stefan Genrich – 02.03.2023, 18:54 Uhr

Klaus Barkowsky (Aaron Hilmer, 3. v. l.) leitet Nutella-Bande mit Kumpel Bernd (Noah Hilmer, l.), Hure Jutta (Jeanette Hain) und Boxer Andy (Henning Flüsloh). – Bild: Susanne Schramke / Amazon Studios
Klaus Barkowsky (Aaron Hilmer, 3. v. l.) leitet Nutella-Bande mit Kumpel Bernd (Noah Hilmer, l.), Hure Jutta (Jeanette Hain) und Boxer Andy (Henning Flüsloh).

Titel und Inhalt eines neuen Sechsteilers erinnern an „Der König von St. Pauli“. Doch in „Luden – Könige der Reeperbahn“ geht es heftiger zu als in der Miniserie der 1990er-Jahre. Die Zuhälter und andere Kriminelle handeln noch weniger nett als die Typen in den alten Puff-Geschichten von Dieter Wedel. Inzwischen zeigen die Luden und Huren offen Sex und Gewalt. Entgegen erster Vermutungen betäubt kein primitiver Heuler die Gehirne. Prime Video überschreitet mehr Grenzen als das Familienfernsehen, verzichtet aber auf Abfolgen von Exzessen.

Die Ereignisse aus dem Rotlicht-Milieu erregen Ekel und berühren gleichzeitig die Zuschauerinnen und Zuschauer. Dabei kann sich niemand gegen das Lachen wehren, wenn Aaron Hilmer („Sløborn“) als Klaus Barkowsky seine Sprüche klopft: Zu schräg klingen die Worte, zumal der Tonfall an Zeichentrickfigur „Werner – Beinhart!“ erinnert. Ohnehin überrascht der Hauptdarsteller nach seinen starken Auftritten bei „Im Westen nichts Neues“ mit ganz anderen Seiten. Dieser Mann füllt seine Rolle phantastisch aus.

Allerdings führt eine andere Person durch St. Pauli der frühen 1980er-Jahre: Die Prostituierte Jutta (Jeanette Hain, „Westwall“) erklärt erotisch und gleichzeitig distanziert aus dem Off, wie sie Klaus zum erfolgreichen Luden erzogen und selber ihren Platz in der Szene erobert hat. Wenn Jutta zu sehen ist, verbirgt sie geschickt ihre seelischen Verletzungen. Die restliche Gelassenheit bringen Drogenspritzen, die sie zwischen die Zehen setzt. Ähnlich beeindruckt Henning Flüsloh als Schläger Andy, der vergeblich von einer Karriere als Boxer träumt und leicht ausrastet. Gebt diesem Kerl endlich größere Auftritte!

Wollen Schläger Andy (Henning Flüsloh) und seine zwei Helfer nur spielen? Amazon Studios

Diese Figuren mit all ihrer Kraft könnten leicht ihren zarteren Freund Bernd (Noah Tinwa, „Wir sind jetzt“) verdrängen, der seinen Kopf einsetzt und insgeheim eine Geschlechtsanpassung vorbereitet. Mit seiner dunklen Haut wird Bernd rassistisch angefeindet, oder er checkt unsicher seinen Körper. Er behauptet sich und stützt seine Freunde. Trotzdem spürt das TV-Publikum seine Furcht, die Maske absetzen zu müssen. Der Krawall auf dem Bildschirm benötigt Bernds Zurückhaltung als Gegensatz. Hingegen versinkt Claudia (Ada Philine Stappenbeck, „Die Mitte der Welt“) immer tiefer im selbst gewählten Elend: Ja, Menschen betrügen sich mitunter selber – die sexuelle Massenabfertigung von Arbeitern auf einer Ölplattform erscheint erträglich, weil der geliebte Zuhälter der ausgelieferten Frau die Ehe versprochen hat.

Mit blutender Nase glaubt Heike (Lara Feith) an eine glückliche Ehe. Amazon Studios

Wer erwartet solche Leistungen bei dem reißerischen Titel „Luden – Könige der Reeperbahn“? Nicht nur die Schauspielerinnen und Schauspieler zeigen ihr Talent. Niklas J. Hoffmann („Hindafing“), Peter Kocyla („Die Chefin“) und Rafael Parente („8 Tage“) haben den Stoff glaubwürdig entwickelt. Vivien Hoppe lässt Leichtigkeit aus „Sankt Maik“ und „Türkisch für Anfänger“ in die Drehbücher einfließen.

Trotz der Anstrengungen könnten die sechs Episoden enttäuschen, wenn die Produzenten keinen schmutzigen Pakt geschlossen hätten: Als Berater haben sie den echten Klaus Barkowsky angeheuert, der nach einer Haftstrafe sein Geld als Künstler verdient und im Suff den Arm zum Hitler-Gruß gehoben hat. Im wahren Leben löst der frühere Zuhälter starke Würgereflexe aus, wie „Der schöne Klaus und die fetten Jahre“ in der ZDFmediathek beweist – dort stolziert er durch die zweite Folge der Doku-Serie „Die Paten von St. Pauli“.

Aaron Hilmer veredelt diesen Widerling in einen vielschichtigen Charakter, der trotz seiner Lügen und seiner lächerlichen Gestalt Sympathie weckt. Sein Ziel scheint gar nicht so verwerflich zu sein: Ich will ’nen Laden, in den die Leute gehen wollen – nicht einen, in den man sie locken muss, träumt Klaus von einer Alternative zur schnellen Nummer mit Taschenleerung. Kaum zu glauben, dass er Liebe und Gefühle beschwört – in Verbindung mit dem geilsten Puff der Welt mit den geilsten Frauen der Welt.

Noch nicht voll erblondet muss Klaus (Aaron Hilmer) Prügel einstecken. Amazon Studios

Diese feinen Herrschaften verweisen auf die sexuelle Revolution und kämpfen angeblich gegen Spießbürgerlichkeit. Sogar Jutta hasst Zwänge und fordert Emanzipation, um sogleich ihre jugendliche Tochter Manu (Lena Urzendowsky, „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) zu verleugnen oder eine Klatsche vom Zuhälter einzufangen. Die vermeintlich brave Hausfrau Birgit (Anne Haug) stellt ihre Prostitution als Akt der Befreiung dar. Ihr Ehemann Rainer (Robin Sondermann) ahnt nicht, dass seine finanzielle Investition bei Klaus durch ihren persönlichen Einsatz noch mehr Gewinn abwirft. Zusätzlich verdrängt der Gierschlund, dass sein boxender Bruder Andy die holde Gattin vernascht und wegen ihr vor Eifersucht rasen kann. Auf St. Pauli regieren eben Lug und Betrug, wie „Luden – Könige der Reeperbahn“ ohne Moralpredigt festhält. Mag sein, dass diese Menschen ausgestoßen werden und nirgendwo sonst eine Chance erhalten. Doch die Miniserie entlastet sie zu schnell von ihrer Verantwortung.

Skandal: Hier in Hamburg stehen die Nutten sich die Füße platt. Amazon Studios

Bei allem Wortwitz und trotz der Nostalgie der 1980er-Jahre lässt sich die Unterhaltung nur unter Vorbehalt genießen. Ohnehin geht diese Welt seinerzeit schnell unter. Aids und Koks zerbrechen die Geschäftsmodelle. Im Sinne von Klaus Barkowsky halten viele Freier das Eros-Center in Hamburg für ungemütlich, sodass sie heute in Sauna-Clubs oder ähnliche Etablissements ausweichen. Wie in der Wirklichkeit verdrängt der moderne Zuhälter ein Kartell der alten Gangster, um später selber zu scheitern. „Luden – Könige der Reeperbahn“ verschweigt keineswegs, wie Klaus und seine Leute durchdrehen. Andererseits romantisieren die Episoden das Leid auf dem Kiez. Einschalten? Auf Kritik könnte Jutta kaltschnäuzig reagieren: Scheiß auf die Regeln. Wir brauchen zehn Mädchen. Wie schnell kriegst du die zusammen?

Dieser Text beruht auf Sichtung der ersten drei Episoden der sechsteiligen Miniserie „Luden – Könige der Reeperbahn“.

Meine Wertung: 3,5/​5

„Luden – Könige der Reeperbahn“ steht ab dem 3. März 2023 bei Prime Video zum Streaming bereit.

Als Ergänzung passt „Der schöne Klaus und die fetten Jahre“: Die zweite Folge der dreiteiligen Doku-Serie „Die Paten von St. Pauli“ läuft in der ZDFmediathek.

Über den Autor

Seit 2016 hat Stefan Genrich Websites entwickelt und an einer Hochschule unterrichtet. Vor einer siebenjährigen Pause bei fernsehserien.de würdigte er das weihnachtliche TV-Programm im United Kingdom: Sein Herz schlägt für britisches Fernsehen. Daher verfolgt er jeden Cliffhanger von „Doctor Who“. Der Journalist kritisiert nebenberuflich Serien. Ihn ärgern Mängel bei ARD und ZDF – oder er genießt „Tagesthemen“ sowie „Nord bei Nordwest“. Frühe Begegnungen mit „Disco“ und „Raumschiff Enterprise“ haben Spuren hinterlassen. Später scheiterte Stefan beim Versuch, die Frisur von „MacGyver“ zu kopieren. Wegen „Star Trek: Strange New Worlds“ und „1923“ mag er Paramount+.

Lieblingsserien: Frasier, Raumpatrouille, Star Trek – Deep Space Nine

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1987) am

    Stullen-Andy aus "Der letzte Lude" wäre autentischer gewesen, als Klaus und seine "Mannen".
    Körperlichkeit, Aussprache, Gewaltbereitschaft und Intelligenz hätten in der Realität der 80er aus dem Vorhaben eine Fünf-Minuten-Geschichte gemacht.
    In der Gang fehlen noch Otto und Pastewka, dann würde man das Ganze einfacher als Persiflage erkennen.

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