„Little Bird“: Identitätssuche zwischen indigenen Wurzeln und jüdischer Erziehung – Review

arte-Miniserie über dunkles Kapitel der kanadischen Geschichte überzeugt nur teilweise

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 16.05.2024, 17:30 Uhr

„Little Bird“ mit Darla Contois (l.) und Lisa Edelstein – Bild: Crave/APTN
„Little Bird“ mit Darla Contois (l.) und Lisa Edelstein

An einem schönen Sommertag im Jahr 1968 streifen die fünfjährige Bezhig (Keris Hope Hill) und ihr Zwillingsbruder Nizzh durch die Prärie ihres Reservats. Als ein Polizeiwagen vorbeifährt, bewirft es der kleine Junge mit einem Stein. Damit zieht er nicht nur die Wut der Beamten auf sich, sondern schnell auch die Aufmerksamkeit des Jugendamtes auf die ganze Familie. Und das steht der Kultur der indigenen Ojibwe nicht gerade aufgeschlossen gegenüber. Für die Geschwister hat das katastrophale Folgen.

Wie in anderen Ländern mit großer indigener Bevölkerung auch, wurden in Kanada über Jahrzehnte hinweg Kinder aus letztlich rassistischen Gründen ihren Eltern entrissen, in staatliche Obhut genommen und zur Zwangsadaption an Weiße Familien freigegeben. In Kanada geschah das von Anfang der 1960er bis in die 80er Jahre im sogenannten 60s Scoop. Von dieser grausamen Praktik und den traumatischen Spätfolgen erzählt die sechsteilige Miniserie „Little Bird“, die arte auf den deutschen Markt bringt. Darin kommt noch eine zweite, für die meisten Zusehenden wohl eher fremde Kultur ins Spiel, denn die kleine Bezhig wird von jüdischen Eltern adoptiert.

Ihre Geschichte erzählen Jennifer Podemski und Hannah Moscovitch konsequent parallel auf zwei Zeitebenen: 1968 rückt am selben Abend die Sozialarbeiterin Jeannie Young (Janet Kidder) mit ihrer frisch ausgebildeten Kollegin Adèle Halpern (Alanna Bale) beim Haus der Familie Little Bird an. Vater Morris (Osawa Muskwa) ist mit dem jüngsten Sohn Leo (Tayton Mianskum) auf der Jagd, Mutter Patti (Ellyn Jade) versteckt erstmal die kleinste Tochter Dora (Charlotte Cutler) unter dem Dielenboden – haben die Berichte von „entführten“ Kindern doch im Reservat längst die Runde gemacht.

Da ist ihre Welt noch in Ordnung: Esther (Darla Contois) mit ihrem Verlobten David (Rowen Kahn) Steve Ackerman /​ Fremantle

Tatsächlich wirft die resolute Sozialarbeiterin der Mutter vor, ihre Kinder zu vernachlässigen. Indizien dafür sind der fehlende Kühlschrank und Wasseranschluss. Dabei gibt es im ganzen Reservat weder Strom noch fließendes Wasser. Schließlich entdeckt Young auch die versteckte Tochter und wertet das als Zeichen für Misshandlung – sie nimmt alle drei Kinder sofort mit in ein Heim. Zum Unverständnis ihrer jungen Kollegin, die das emotional sehr angreift.

18 Jahre später feiert die längst erwachsene Bezhig (Darla Contois), die jetzt Esther Rosenblum heißt, die Verlobung mit ihrem Kindheitsfreund David (Rowen Kahn). Sie steht kurz vor ihrem Juraexamen. An ihre Herkunft erinnert sie sich kaum. Doch als sie zufällig hört, wie sich ihre zukünftige Schwiegermutter abfällig über ihren nicht jüdischen Hintergrund äußert, brechen sich lange verdrängte Bilder wieder Bahn. Esther verlässt die eigene Party Hals über Kopf und begibt sich auf die Suche nach ihren Wurzeln.

Kämpfende Mutter: Patti Little Bird (Ellyn Jade) Steve Ackerman /​ Fremantle

Trotz aller Vorhersehbarkeit ist der Handlungsstrang um die junge Bezhig und ihre Geschwister emotional kaum zu fassen. Wie kann ein angeblicher Rechtsstaat einer Mutter ihre Kinder entreißen, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, mit fadenscheinigen Gründen, die nicht mehr sind als offensichtliche Unterstellungen? Wie kann ein Richter das dauerhaft absegnen, ohne die Betroffenen überhaupt anzuhören? Warum greift keine(r) der Staatsbediensteten ein, obwohl doch die junge Adèle erkennt, dass dieses Verfahren nicht gerecht sein kann? Heute wissen wir, dass sich diese Vorgänge nicht nur in Kanada, sondern auch in anderen Demokratien wie den USA oder Australien (man erinnere sich an den Kinofilm „Der lange Weg nach Hause“) tausendfach wiederholten.

Emotional weniger berührend bleibt leider die Aufarbeitung der Ereignisse durch die erwachsen gewordene Tochter in den 80ern. Zwar werden wir Zeugen, wie Esther/​Bezhig ihre Geschwister nach den vielen Jahren wiederfindet, wie sie erfährt, was damals wirklich passierte. Diese Begegnungen bleiben aber seltsam blass. Vielleicht, weil hier zu viele Zufälle im Spiel sind – kaum hat sie sich auf die Suche gemacht, hat sie ihre Schwester auch schon gefunden. In dem riesigen Reservat stößt sie ohne größere Probleme schnell auf das Haus ihres Bruders. Auch die SchauspielerInnen überzeugen hier nicht so rückhaltlos wie die Darsteller auf der anderen Zeitebene.

Knallharte Sozialarbeiterin: Jeannie Young (Janet Kidder) Steve Ackerman /​ Fremantle

Hinzu kommt, dass die Geschichte mit dem zusätzlichen Thema der jüdischen Aufnahmefamilie etwas überfrachtet wirkt. Während Esthers Rede auf ihrer Verlobungsfeier am Anfang wird deutlich, dass ihre Adoptivmutter Golda (Lisa Edelstein, „Dr. House“) durch die Shoa den größten Teil ihrer Herkunftsfamilie verloren hat. Das nutzt die wütende Esther später für ihre Vorwürfe, als sich Golda uneinsichtig zeigt, mit der Zwangsadaption einen Fehler gemacht zu haben. Gerade sie müsse doch verstehen, dass es nicht richtig sein kann, eine Tochter ihren leiblichen Eltern und ihrer Familie zu entreißen. Diese Parallelsetzung erscheint aufgesetzt und unangemessen. Mit einer christlichen Adoptivfamilie wäre die Geschichte wahrscheinlich überzeugender ausgefallen, zumal jüdische Familien in der Realität eher in der Minderheit gewesen sein dürften.

Faszinierend wird die Serie immer dann, wenn sie ganz in die indigene Kultur der Ojibwe eintaucht und dabei auf die stilistischen Mittel des Indiefilmemachens vertraut (Regie der ersten Episoden: Elle-Máijá Talifeathers). Mit Hilfe von Landschaftsaufnahmen und Lichtreflexen (den berüchtigten Lense Flares, bei denen die Sonne direkt in die Kamera scheint) verschmelzen Innen- und Außenwelt der ProtagonistInnen. Auf der anderen Seite wirken die Menschen in allen Sequenzen, die sich in der Stadt (der Mehrheitsgesellschaft) mit ihren Ämtern, Gerichten und Erziehungsheimen abspielen, sich selbst und der Natur entfremdet. Wer neu in dieses System kommt, mag sich noch sein Einfühlungsvermögen bewahrt haben wie die junge Adèle. Jahrzehnte später ist sind davon aber allenfalls noch kleine Reste übrig.

Wieder vereint nach vielen Jahren: Esther/​Bezhig mit ihrem Bruder Leo (Braeden Clarke) Steve Ackerman /​ Fremantle

Das größte Verdienst der Serie ist es, von den schockierenden gesellschaftlichen Hintergründen zu erzählen, die immer noch zu wenig bekannt sind. Den SerienmacherInnen gelingt es mal mehr und mal weniger, das in eine überzeugende fiktionale Form zu gießen. Hier wären einige Aspekte weniger wohl mehr gewesen.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten Miniserie „Little Bird“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die sechsteilige Miniserie ist ab dem 16. Mai bei arte.tv verfügbar. Die lineare Ausstrahlung folgt am Donnerstag, den 23. Mai ab 21:45 Uhr bei arte mit allen Episoden am Stück.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

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