„Under the Bridge“: Mädchen im Mordrausch – Review

Disney+ zeigt intensiv inszenierte, leicht überladene True-Crime-Miniserie mit Lily Gladstone und Riley Keough

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 08.07.2024, 19:37 Uhr

Ermittelt in einem grausamen Fall von Jugendgewalt: Polizistin Cam Bentland (Lily Gladstone). – Bild: Hulu/Disney+
Ermittelt in einem grausamen Fall von Jugendgewalt: Polizistin Cam Bentland (Lily Gladstone).

Neues Futter für True-Crime-Fans: Prominent besetzt mit Riley Keough und Lily Gladstone, zeichnet die achtteilige Krimiserie „Under the Bridge“ einen Mordfall nach, der 1997 in Kanada hohe Wellen schlug. Die 14-jährige Schülerin Reena Virk wurde damals in einem Vorort von Victoria auf Vancouver Island tot aufgefunden – die Art und Weise ihrer Ermordung sorgte für erregte Diskussionen über Jugendgewalt und ihre Ursachen. Die sorgfältig inszenierte Serie hält sich weitgehend an die Fakten, greift aber auch zu Fiktionalisierungen – und droht den True-Crime-Ansatz zu überfrachten.

Eines ist von Anfang an klar: „Under the Bridge“ ist kein Whodunit-Krimi. Die Spannung, die üblicherweise aus der Mördersuche und den dabei absolvierten polizeilichen Ermittlungsschritten generiert wird, fällt hier weitestgehend weg, denn der Ausgang des Falls ist weithin bekannt: Schon nach kurzer Zeit wurde damals eine Gruppe von sechs Teenagern aus dem westkanadischen Örtchen Saanich, einem Vorort von Victoria, British Columbia, für die Misshandlung bzw. den Mord an Reena Virk verantwortlich gemacht und zu unterschiedlich hohen Strafen verurteilt. Zwischen Mord und ersten Urteilen lagen nur drei Monate, große ermittlungstechnische Irrwege gab es nicht: Stoff für „True Detective“ ist das also eher nicht.

Klar deshalb, dass Autorin Quinn Shephard („Blame“) viel stärker auf das „Wie“ als auf das „Was“ setzen musste, also auf die persönlichen, familiären und auch gesellschaftlichen Hintergründe des Falls, weshalb dem Publikum in den acht Folgen nun von allem ein bisschen serviert wird. Es gibt durchaus polizeiliche Ermittlungen, aber nicht genug, als dass dadurch acht dreiviertelstündige Episoden gerechtfertigt wären. Es gibt auch Einblicke in den Zirkel der jugendlichen Täter, in Teilen faszinierend, deprimierend und entsetzlich. Teilweise kratzen sie allerdings nur an der Oberfläche, wenn es um die drängende Frage nach dem „Warum“ geht. Zudem gibt es Flashbacks aus dem Familienleben der ermordeten Reena, die den emotionalen Kern der Serie bilden. Schließlich werden auch die beiden zentralen Frauenfiguren der Serie – die Polizistin Cam und die Journalistin Rebecca – näher beleuchtet, ihre Motivationen und jeweiligen Traumata, ihr früheres und jetziges Verhältnis zueinander, wobei man sich des Eindruckes nie ganz erwehren kann, dass dies ausschließlich deshalb passiert, weil sie von den darstellerischen Aushängeschildern der Produktion, Lily Gladstone (oscarnominiert für „Killers of the Flower Moon“) und Riley Keough („Daisy Jones & The Six“, „The Girlfriend Experience“) verkörpert werden und entsprechend ausführlich präsentiert werden mussten.

Recherchiert unter Teenagern: Autorin Rebecca (Riley Keough) überschreitet ethische Grenzen. Hulu/​Disney+

Die Journalistin, das ist die Sachbuchautorin Rebecca Godfrey, auf deren 2005, also acht Jahre nach der Tat, veröffentlichtes Werk „Under the Bridge“ sich die acht Folgen stützen. Godfrey, die vor zwei Jahren mit nur 54 Jahren an Krebs verstarb, war noch an der Entwicklung der Drehbücher beteiligt und wird als Executive Producer geführt: Es ist also davon auszugehen, dass sie damit einverstanden war, als Hauptfigur in das tragische Geschehen der Serie integriert zu werden. Ob das eine gute Entscheidung war, ist diskutabel.

Zurück zum Fall, um den es geht: Reena Virk (eine Entdeckung: Vritika Gupta) ist die in Kanada geborene Tochter eines indischen Migranten und seiner indokanadischen Frau. Die Eltern sind Zeugen Jehovas und sehen sich als „Minderheit innerhalb einer Minderheit“. Dieser Hintergrund, gepaart mit Reenas pubertär-rebellischer Phase, führt zu einer Gemengelage, die durch zusätzliches Mobbing weiter aus dem Lot gebracht wird. Am 14. November 1997 kehrt Reena nicht mehr von einer Party zurück. Acht Tage später wird ihre Leiche im hintersten Tümpel des Hafens von Victoria gefunden.

Rund um diesen Kernfall lässt Shephard ihre Erzählung räumlich und zeitlich in alle beteiligten Bereiche ausstrahlen. So wird Reenas Leben durch Rückblenden erhellt, in denen ihr angespanntes Verhältnis zur streng religiösen Mutter (Archie Panjabi aus „Good Wife“), zum sanften Vater (Ezra Faroque Khan) und zum zugewandten Onkel (Anoop Desai, „What We Do in the Shadows“) ebenso beleuchtet wird wie ihr langsamer Aufschlag im Dunstkreis eines Heims für schwer erziehbare (bzw. von ihren Eltern aufgegebene) Jugendliche. Zu den im „Seven Oaks“-Heim lebenden Teens baut Reena ein von Abstoßung und Anziehung geprägtes Verhältnis auf, sie lässt sich sogar zu einer Irrsinnstat verleiten, um selbst dort aufgenommen werden zu können.

Polizistin Cam Bentland (Gladstone) – eine Erfindung der Serie – wird als besonnene Beamtin eingeführt, deren Wunsch, sich in die Großstadt Vancouver wegbefördern zu lassen, bei ihrem Polizistenvater Roy (Matt Craven, „Crimson Tide“) und Polizistenbruder Scott (Daniel Diemer, „Nur die halbe Geschichte“) auf kaum kaschierte Abwehr führt. Während die Polizei Reenas Verschwinden zum Ausreißerfall verharmlost, später im alltagsrassistischen Reflex erst einmal die Familie selbst als Übeltäter verdächtigt, ist es Cam, die schließlich Ermittlungen einleitet: Was ist wirklich passiert, „unter der Brücke“? Ob sie das aus ernsthaftem Interesse tut oder nur, weil sie sich dadurch Vorteile im Beförderungsprozess erhofft, bleibt offen.

Aus den Tagen vor ihrer Ermordung: Die 14-jährige Reena Virk (Vritika Gupta) wird von ihrem Onkel Raj (Anoop Desai) chauffiert. Hulu/​Disney+

Ihre Figur spiegelt sich in der zweiten Hauptfigur der Serie: Buchautorin Rebecca Godfrey (Keough). Die ist nach einem ersten Bucherfolg in eine Schaffenskrise geraten und aus New York in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Dort möchte sie ein neues Buch beginnen – über vernachlässigte Jugendliche auf Vancouver Island – und recherchiert sich ausgerechnet in jenen Tagen in das Umfeld von „Seven Oaks“ hinein, als Reenas Verschwinden publik wird: Was für ein Timing! Um an die Heimbewohnerinnen heranzukommen, überschreitet sie so ziemlich alle journalistischen Distanzhaltungsregeln, und weil sie eine eigene (auch romantische) Vergangenheit mit Cam zu bieten hat und Cam wiederum eine Vergangenheit in „Seven Oaks“, sind ihre Handlungslinien zwangsläufig verbunden mit dem Kriminalfall, um den es geht – vielleicht stärker, als er der Serie guttut.

Deren Kern nämlich sind ja eigentlich die Mädchen aus „Seven Oaks“ und deren Umfeld, in dem sich Reena verheddert. Nur zwei der sechs verurteilten Jugendlichen – Kelly Ellard (gespielt von Izzy G. aus „AJ and the Queen“) und ihr Freund Warren Glowatski (Javon Walton aus „Euphoria“) – kommen dabei namentlich in der Serie vor, die anderen vier wurden fiktionalisiert, beispielsweise Dusty (Aiyana Goodfellow aus „The Outlaws“), ein schwarzes Mädchen, das auf dicke Hose macht, aber als erste unter der Last der Geschehnisse zusammenzubrechen droht. Als Anführerin der Mädchen, die sich (nur halbironisch) „Crips Mafia Cartel“ nennen und den ganzen Tag Gangsta-Rap hören, fungiert Josephine „Jo“ Bell (Chloe Guidry, „Schreck-Attack“), die mit ihrer Stupsnase und den blonden Haaren aussieht wie die Cheerleader-Queen jeder x-beliebigen Highschool. Doch in Sekundenbruchteilen kann sie vom niedlichen Lächeln auf einen teuflischen Todesblick umschalten. Sie verteilt Sympathie und Hass nach Gutdünken und will ihr Vorbild im New Yorker Mafiapaten John Gotti ausgemacht haben. Ihr in die Quere gekommen zu sein, wird Reena schließlich zum Verhängnis.

Mit dem auf diese Weise aufgefächerten Personal vollzieht „Under the Bridge“ Bewegungen seit-, aber auch rückwärts. In der vierten Folge etwa wird Reenas Familiengeschichte beleuchtet, es geht zurück in die Eltern- und Großelterngeneration. Gegen Ende dann macht Cam eine Entdeckung, die ihre eigene Identität als indigene Kanadierin betrifft und mit dem sogenannten „Scoop“ zusammenhängt: Damals wurden indigene Kinder ihren leiblichen Familien entrissen und bei weißen Familien untergebracht.

Schwänzen die Schule und wollen Gangster sein: Jo (Chloe Guidry, l.) und Dusty (Aiyana Goodfellow) vom selbsternannten „Crips Mafia Cartel“. Hulu/​Disney+

All diese Elemente sind für sich genommen hochspannend und sorgen doch dafür, dass die Serie auf Dauer ihren Fokus verliert bzw. die Frage aufkommen lässt, warum sie sich überhaupt auf einen wahren Fall beruft, wenn sie fiktive Figuren gleichwertig in die scheindokumentarisch nachinszenierte Realität integriert. Führt mit Cam eine queere, indigene Frau durch den Plot, weil die dadurch eröffneten Themenblöcke rund um Identität und Rassismus den Mordfall Reena Virk neu zu perspektivieren helfen – oder aber, weil die Produzenten dachten, ohne eine solche Figur käme man derzeit nicht aus? Beides mag in Teilen stimmen, ablenkend wirkt Cams Storyline dennoch, trotz Gladstones sehenswert unprätentiösem Spiel. Oder Rebecca: War es nötig, neben Cam noch eine weitere „Lotsin“ durch das Figurendickicht zu etablieren? Auch bei der von Keough gespielten Buchautorin weiß man nie: Geht es ihr wirklich um die Mädchen und den Kriminalfall, oder ist das alles nur das Motivationsvehikel für eine arrivierte Intellektuelle in der Sinnkrise?

Der eigentliche Plot von „Under the Bridge“ droht von diesen Zusatzlasten überfrachtet zu werden, gegen Ende scheint er konstruierter als nötig. Gern hätte man als Zuschauer dagegen mehr Zeit bei den kriminellen Mädchen verbracht, mehr über ihre sozialen Hintergründe erfahren. Mit Nachdruck fragt die Serie schließlich danach, was das für eine Gesellschaft ist, in der Teenager wie Ballast beiseitegeräumt werden. Doch sie bemüht sich kaum darum, nach möglichen Antworten auch nur zu suchen. Die Polizei betrachte ihresgleichen als „Bic girls“, also wegwerfbar wie Einwegfeuerzeuge, sagt Jo eingangs zu Rebecca. Doch mal entschieden hinter die Mechanismen von sozialer Ausgrenzung, Rassismus und Klassismus zu blicken – davon hält sich die Serie letztlich fern.

Was bleibt, ist ein perfekt inszeniertes und vor allem in den Teenie-Rollen beeindruckend gespieltes Zeitstück, das mit The Notorious B.I.G. und Spice 1 die Musik sowie mit Marc-Jacobs-Mänteln und Steve-Madden-Boots die Mode der späten Neunzigerjahre perfekt nachvollzieht, an die Klasse wirklich maßgeblicher Sozialkrimis mit weiblicher Hauptfigur (etwa „Mare of Easttown“) am Ende aber nicht heranreicht.

Dieser Text basiert auf der Sichtung aller acht Episoden von „Under the Bridge“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die Miniserie „Under the Bridge“ wurde in den USA im Frühjahr bei Hulu veröffentlicht. Die Deutschlandpremiere erfolgt ab dem 10. Juli beim Streamingdienst Disney+.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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